Das 9 Euro-Ticket – ein Selbstversuch im August

Wir stehen am Hauptbahnhof Braunschweig, mein Koga und ich.  Gerade aus dem Regionalzug RB007 entstiegen, der von Magdeburg aus hier endet. Auf allen Bahnsteigen ist es rappelvoll, vielleicht nicht ganz so voll wie eben in Magdeburg. Menschen verschieben sich in alle Richtungen.

a01Die Stimmung ist gelöst – trotz oder wegen der Fülle?  Vielleicht auch wegen des unendlich langen und warmen Sommers und des 9 Euro Tickets, das Millionen seit über zwei Monaten ungeahnte Mobilität verschafft hat und eigentlich alle Fahrscheinkontrollen  überflüssig macht. Außer in ICEs – aber darin sitzen ohnehin nur subventionierte Geschäftsreisende, Seniorentickets und ehemalige TV Stars auf Regionaltournee.

a3Inmitten dieser fast anarchischen Happening-Stimmung finden sich irgendwo Bahnangestellte oder ihre Helfer in Warnwesten. Leicht erschöpft versuchen sie, mein Problem zu lösen.. Hier in Braunschweig  muß ich nach  Richtung Süden,  nach Göttingen, der schönen, beliebten Universitätsstadt. Doch niemand vom Fachpersonal weiß nun, ob der Weg über Hannover schneller wäre. Smartphones werden gezückt, Apps geöffnet – nirgends ein Streckenplan  – nur Verbindungszeiten, graue Theorie.

Für eine Entscheidung bleibt nicht viel Zeit, Apps werden  geschlossen, ich sehe mich um und lese Anzeigentafeln. Hinten, zwei Bahnsteige weiter steht ein Zug nach Seesen, der in wenigen Minuten loszockeln wird. Durchsagen: Verspätungen, Ausfälle, Sondermeldungen. Dazwischen rollen noch etliche Güterzüge gemächlich über die Gleise. Ich setze jetzt auf Seesen, schultere die Maschine und eile die Trepppen hinab und wieder hinauf…rein in den Zug!

a4Erst im gut klimatisierten Waggon finde ich eine Regional-Karte, mit der ich einigermaßen die Folgen meiner Zugwahl überschauen kann. Ein Gewirr von Strecken, Zahlen und bunten Flecken, das sind die Regionen. Seesen war gar nicht so falsch und eine Mitfahrerin erklärt mir die Geheimnisse des Verkehrsverbunds.

a1Aus der Perspektive von Regionalzügen zerfällt Deutschland in viele Kleinstaaten, wie auf einem alten historischen Atlas der Barockzeit. Hannover und Braunschweig sind hier wieder getrennte Reiche. Daneben weitere Farben. Der Harz ist von diversen Fürstentümern aufgeteilt, wie mir scheint, zudem haben sich einige freibeuterische Privatbahnen Rosinenstrecken aus dem bunten Kuchen gepickt . Kein Wunder, daß diese in keiner DB – App auftauchen, diese herrenlosen Triebwagen.

In Seesen steige ich also aus, um nicht wieder tief im Harz zu verschwinden – besten Dank für die bereitwillige Hilfe der Passagiere, die routinemäßig in dieser schönen Landesecke unterwegs sind.

a7Da stehe ich nun auf dem Bahnsteig vor einem frisch sanierten Bahnhofsgbäude (post – romanisch?) unter lauter Menschen, die noch nie in ihrem Leben nach Seesen mussten. Das Gebäude geschlossen, die Umgebung ohne die Spur einer wirtschaftlichen Aktivität. Es hat geregnet! Niemand jubelt nach 3 Monaten..und mittendrin ein so schönes Gebäude, das vordem mindestens 5 Menschen lebenslanges Auskommen bescherte. Immerhin geht die Anzeigetafel, ja, es kommt ein Zug nach Göttingen.

Recht voll auch dieser. Die Schaffnerin prüft nun 9 Euro Tickets und erkennt in mir (Helm, Trikot, shorts) unzweifelhaft einen der fünf Radfahrer, die ihre Räder abgestellt haben. Denn in Niedersachsen braucht man ein Fahrradticket , sagt sie mir. Aha: In Berlin, Hessen und Sachsen Anhalt nicht, sage ich. Sie versucht der smarten Maschine ein online ticket auszupressen und lässt bald die Arme sinken. 4 euro 50 entgehen dem Autoland Niedersachsen. Gnade vor Recht.

a5Dann steige ich  in Göttingen als letzter aus, weil ich doch die Dame mit dem Faltrad nicht stören will. Warum die anderen hier so drängeln, verstehe ich nicht. Göttingen ist ein bemerkenswert ruhiger Bahnhof, ich sehe mal auf der Anzeigentafel nach dem Anschlusszug. Ungefähr gleichzeitig entdecke ich beides: die Abfahrtszeit und den blauen Triebwagen im nächsten Gleis. Metronome kann ich noch auf seinem Rumpf lesen und mit ihm fahren all die Leute davon, die es eben noch so eilig hatten.

„Sie können es sowieso nicht mehr ändern“, lächelt mich der Bahnmann hinter dem Schalter an, der Informationen aber keine 9 Euro Tickets hat. Wer weiß, welchen Sinn der verpasste metronome Zug noch hat.

Ahbf GöttingenSeine fast buddhistische Gelassenheit bringt mich tatsächlich zur Ruhe und ich beschließe, mir auf der Stelle, in diesem Bahnhof aus Naturstein Hannoverscher Rundbogenform ein komplettes BurgerKing Menu zu gönnen. Mit Orangensaft! Kassel? 52 km sagt eine Stimme aus der brütend warmen Küche im Hintergrund. 52km bis Kassel und 2 Stunden 45 Minuten bis zum Anschluß nach Gießen. Ich nehme die Herausforderung an. Nachdem ich das Menü auf dem Vorplatz in mich hineingedroschen, den guten Orangensaft aus den kleinen Tüten aufgeschnupft und dann die Hände in einem Kindersrpringbrunnen gewaschen habe, muß ich nur noch auf die B3, was ein leichtes ist, sie führt gleich hinter dem Bahnhof lang.

ab1Vierspurig führt sie mich aus der Stadt hinaus. Direkt an den Wohnheimen vorbei, direkt in eine milde und schöne Landschaft,

die sich in ihrer ruhigen Schönheit zeigt entfaltet, nachdem ich 5 Kilometer bergauf gefahren bin. Burger King hilft. Und dann geht’s bergab und einsam kurvig durch Felder und Tal. Hinunter nach Hann.Münden an die Weser:

ab3Ein ruhiger träger Fluß im Abendlicht, kaum Verkehr, alle anderen nutzen die A7. Ich werde das Zeitfahren gewinnen. Die metronome Bahn kann mich mal, Documenta-Stadt ich komme.

ab4Kassel hat etwas von Wolfsburg  – aber auch von Brandenburg (Havel!), nur in wellig. Von Westen schieße ich die lange Einfallsstraße hinunter,  dann geht es wieder aufwärtds – ins Tal hat kein Bahnhof gepasst.

ab6Der alte Hauptbahnhof ist ein Gespensterort; in der Halle nur zwei Zivis, die sich an einem einsamen Klavier mit dem König der Löwen austoben und dann strömen Kunsterziehrpaare mit Rassismus Detektor vorbei , die hier zur Documenta ankommen (EthnoFarben, Holzschmuck, Sandalen, neugierig prüfender Blick) Ihr könnt mich mal, ihr Gutmenschen auf Bestätigungssuche.

ab5Kasernig, weitläufig und irgendwie leer. Nicht mal Drogenhandel scheint sich an diesem Bahnhof zu lohnen. Glücksspiel geschlossen , kein Döner, vielleicht eine Shisha? Nur Documentawerbung, sonst nix. Ein Riesenkaff! kaum 8 Uhr und alles geschlossen: an einem Montag.

Aber ich bin da wo ich hinwollte – und mit mir die Zugbegleiter für den ICE aus Braunschweig, die auf anderen, verschlungenen Wegen hier eingetroffen sind und aussehen, als wollten sie schnell nach Hause.

Im letzten Abteil sitzen zwei Radfahrer, die mit Wimpel für Verkehrswende unterwegs waren. . .mit dem kleinen Ticket für 9 Euro sind alle an ihr Ziel gekommen.

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