Bernard Hinault war die Buchhaltung des Körpers von Natur aus fremd. Der Ausnahmeathlet war ebenfalls eine Ausnahmepersönlichkeit, was das Trainingsverhalten anging – nur schwer zu bändigen. Cyrille Guimard, der Entdecker des 5maligen Toursiegers, wußte, nach welchem Prinzip sein Schützling funktionierte: nach Gefühl. Hinault war in der Lage, die Trainingsrunde zweimal in der gleichen Zeit abzuspulen, ohne daß es eine Uhr gebraucht hätte. Er kannte seine Leistungsdaten, verweigerte sich nicht den Messungen, aber sie waren nebensächlich. Kenne Deinen Körper, laß Deine Instinkte nicht verschütt gehen, Zahlen siegen nicht: er war ein Champion.
Das Privileg, auf Zahlen verzichten zu können, teilen wir Sonntagsfahrer mit dem Champion – ebenso wie das Training nach Gefühl, das Profis und ambitionierten Fahrern durch immer umfassendere Meßeinrichtungen verwehrt ist. Training nach Gefühl bedeutet nicht : nach Lust und Laune, sondern nach dem, was der Körper mitteilt , wie er Signale sendet, antwortet – und uns am Ende belohnt.Gerade der privilegierte Sonntagsfahrer kann seine Runden mit dem Gefühl des Champions bestreiten . Gestern war so ein Sonntag.
1 Aufwärmen im Anstieg
200 Höhenmeter warten gleich zu Beginn der Runde. 6 bis 8 Prozent. Mit zwei Zähnen mehr an, als ich aufgewärmt brauche in einer gleichmäßigen, nicht zu langsamen Frequenz. Guimard nennt 10 Minuten als minimale Zeit, um das physiologische System von Ruhe auf Leistung zu bringen. Nur durch leichtes Aufwärmen öffnen sich die Kapillarsysteme der Blutgefäße gleichmäßig zur vollen Versorgung der Muskulatur.
2 Kadenzen auf der Bahn
Eine flache Strecke von 10 Kilometern macht alle Bewegungsformen des Radfahrens möglich – von Intervallsprints, Dauertempo bis absolut entspanntem Dahinrollen. Es gibt noch eine: das Fahren mit hoher Kadenz bei konstanter Geschwindigkeit. Vor wenigen Jahren konnte ich eine Frequenz von 100 Umdrehungen nur minutenweise ertragen – das Zeitfenster hat sich seither immer weiter gedehnt.
Nach 5 Minuten geht es immer besser, nach 10 möcht man dir Kurbel fast nicht mehr langsamer drehn. Unter 60 Umdrehungen drücken wir die Pedale, von 60 bis 80 ist es ein Treten, wobei am oberen Totpunkt noch deutlich mehr Arbeit geleistet wird. Jenseits der 90 geht der Tritt in einen gleitenden Zustand über, das Pedalieren. Ab 100 Umdrehungen dann ist es nur möglich den Tritt zu halten, wenn man seine Kraft so gleichmäßig wie nur möglich über die gesamte Umdrehung verteilt, das Pedal wird dann beinahe gestreichelt, Zug und Druck gehen in eine bewegung über. Nach 15 Minuten hat man ein neues Stadium erreicht. Für den Rest der Fahrt möchte man schneller treten.
3 Wiegetritte in kurzen Steigungen
Kurze Steigungen die sich drohend aufbauen dienen, den Wiegetritt zu üben, eine Variante, mit maximaler Kraft zu arbeiten. Einen Gang schwerer als im Sitzen wählen und dann – die Kuppe fest im Blick – mit kräftigem Zug am Lenker die Steigung hinauf drücken und sehr tief atmen. Das Gegenteil von Intervallen am Berg, aber eine nützliche weitere Form, das Rad bei giftigen Abschnitten zu bewegen – manche Pässe in den Dolomiten oder den Pyrenäen haben solche Passagen….
4 Tempoarbeit
Auf einer schönen, langgezogenen, einsamen Straße in Abständen immer größere Gänge wählen und jedesmal darauf achten, wieder die gleiche Kadenz zu erreichen. Nach 5 Minuten zieht mir diese Übung den Stecker. Nach weiteren 5 Minuten wiederholen: auch eine Gelegenheit, die Trittposition im Unterlenker zu variieren. Ein Grund, weshalb ich gern gerade Sättel wie den Rolls fahre: man kann ein en halben Zentimeter vor – oder zurück. So verlagert man die Muskelarbeit zwischen Oberschenkel und Rücken, tritt „länger“ oder „kürzer“. Kürzer bedeutet mehr Maximalkraft, macht man sich lang, kommt die Kraft mehr aus dem Rücken, kann besser verteilt werden. ich wechsle ab, denn anders ist es nicht auszuhalten…
5 Steigungen an der aeroben Schwelle bezwingen
Hinter der Hachenburger Brauerei beginnt mit mäßigen Prozenten ein schöner, gerader Anstieg. Hier einen Gang wählen, der sich anfangs leicht anfühlt, bei zunehmender Steigung aber zu immer tieferer Atmung zwingt. Immer in derselben Position bleiben, nicht zu stark am Horn ziehen, den gesamten Körper nutzen, während es aufwärts geht. Es ist normal, wenn man nach 500 Metern aushustet, man darf nur nicht ins Hecheln kommen – dann war man jenseits der Schwelle.
6 Die schnelle Position
In der anschließenden Abfahrt den größten Gang wählen, zunächst ganz locker das Laktat aus den Beinen treten, dann dreht es sich immer schneller, einfach versuchen, mit der maximalen Geschwindigkeit locker zu treten, (120 Umdrehungen über eine Minute sind sehr anspruchsvoll) danach dehne ich mich in alle Richtungen aus, auf dem Rad natürlich.
Diese 6 Trittvarianten (eine zufällige Zahl) variieren je nach Geländeform und Lust. Danach Dazwischen rolle ich ganz touristisch und entspannt dahin und genieße die vielen Arten, eine Kurbel zu drehen. Es gibt noch mehr, es gibt Intervalle, Sprints, das alles, bis zum Gefühl der Erschöpfung sind der Phantasie kein Grenzen gesetzt
Am schönsten aber ist am Ende das Gefühl, entspannt die letzten Meter auszurollen und den guten Hunger mitzubringen. . . .
Lieber Christoph, genau! mit Gefühl trainieren, ohne Fitness-app, Pulsmeter, Wattmesser… Aber das Ganze richtig machen, wie weiland Bernard Hinault. Wo das hinführen kann, wissen wir ja nun. Danke für diese entspannten Ausführungen – qu’il est encore actuel aujourd’hui.