Weiß ist die Farbe der Unschuld, des Schnees und eines Stücks Popkultur. Der Schnee ist fort, ganz wenige Reste sind am Rand der Bäche zu entdecken, wenn man hoch genug kommt. Weiß ist die Farbe eines Albums, daß in über dreißig Jahren millionenfach verkauft wurde. Der sicherste Indikator für musikalische Qualität ist, wenn eine Zehnjährige völlig gebannt unbekannte Stücke entdeckt. Back in the USSR unter dem Weihnachtsbaum 2023 ist genauso pikant wie 1968, als die Beatles ihr letztes opus magnum ins Weihnachtsgeschäft brachten.
Heute, am 27.12 AD 2022 wird der kleine Chronist unserer Konsumkultur mit diesem Soundtrack quer über die Oberahrer Berge ziehen. Dann rollt er an iher Rückseite zur Monatbaurer Senke, um an den Gestaden des fashion outlets Augenzeuge des großen Schauspiels zu werden, das sich den Hirten auf dem Felde bietet. Konsumstimmung in der Zeitenwende. Die Landschaft ein wenig wie das weiße Album – grün und ländlich, dann wieder zersiedelt, schroff, geplündert und vom harten metal der Moderne durchsetzt.
Beatles 1968: ein Zyklus geht zuende, eine neue Zeit beginnt – die Inspiration wird im fernen Osten gesucht, ihre Konturen sind unklar und irrlichternd, genau wie 2022.
Looking through the glass onion
Auf dem Weg in die Oberahrer Berge erwischen mich ein paar Tropfen. Sorgenvoll prüfe ich den Wind und sichte die Wolken. Grau ist es überall rund um Meudt, der Wind kommt aus Südwest, in Ost kündet ein dichter Schleier schon vom Schauer, dem ich hinter der Kuppe entkommen will. Die schmale Straße zwischen den weißen Randstreifen windet sich langsam durch die Wiesen hinauf.
Ein anonymer Landmann hat Futter auf die Frontgabel seinen alten IHC Traktors gespiesst, gleich wird er sich zu einem Stall oder auf eine Koppel aufmachen. Hier grasen Pferde, ein Mobilfunkmast zeigt zuverlässig die höchste Erhebung über ihren Weiden an. Der Mast erinnert mich daran, daß in drei Tagen der letzte Langwellensender aus Frankerich seinen Betrieb „aus Energiespargründen“ einstellen wird. Es bleiben dann nur noch einige orientalische Sender oder die BBC4, wenn man vom Funkverkehr der U-Boote absieht. Ob das internet eine sparsame Spielart des Rundfunks ist, sei dahingestellt; ich denke eher an Russland, Kurdistan, oder den Iran oder Länder, denen ein kontrollierter Medienkonsum ihrer Bürger willkommen ist.
In einer kleinen Senke verstecken sich eine Handvoll Häuser, einigen fehlt noch der letze Schliff. Tapfer weht eine Vereinsflagge im Wind. Grünschwarz, ein B im langen Rhombus. Die Oberahrer Berge sind eine kleine Hügelkette, die kleinen Bäche haben das Land gefurcht.
Poor young country boy
Oben dann ein Gewerbegebiet mit Familienanschluß. Vor dem Silo der Methangasanlage das Eigenheim mit Spielplatz. Wahrscheinlich wird hier Biomüll verwertet. Nach einem Trafoturm, der das Ensemble mit Strom versorgt, geht es hinunter Richtung Montabaur – 12km noch. Es folgen Straßendörfer in Hörweite der Lebensader B255. Graue Häuser, wenig Leben, hier und da ein gewerblicher Hinweis. Dazwischen einige industrielle Bauten, manchmal beflaggt.
Rocky Raccoon
Ein alter Pickup zitiert möglichen Country Rock. Blau zeichnen sich weit hinten am Horizont die Hügel des Rheinischen Westerwalds Richtung Koblenz ab. Heute nicht. Vor Montabaur kommt noch die ein oder andere Welle, der Kurs verläuft wegen der Tongruben im Zickzack, nur die Bundesstraße (für Fahrräder verboten) führt gerade zum Ziel.
15h06 zeigte die digitale Fließuhr einer Apotheke bei Siershahn ; Ziel in Sichtweite, ganz kurz macht das Rad vor der primitivistischen Skulptur eines Pferdekopfes Rast.
Wild Honey Pie
Unter der ockerfarbenen Silhouette des Montabaurer Schlosses liegt das Tal der Träume. Linkerhand das Gewerbegebiet Galgenberg. Autohäuser, Baumärkte, Einkaufzentren, Imbissketten und ein Markt, der sich Herkules nennt.
Dahinter die Autobahn 3, parallel dazu eine ICE Trasse. Obwohl der ICE-Bahnhof energetisch unnötig wäre (einen ICE bremsen und beschleunigen frisst brutal Strom) beweisen die endlosen Weiten der Parkplätze, die an Wochentagen dicht beparkt sind, die Notwendigkeit des Haltepunkts: sie sind ein untrügliches Zeichen des Wohlstands. Ohne ICE wäre die Kreisstadt wahrscheinlich eine failed city. So aber sichern zum Jahresende Endverbraucher aus nah und fern den sprudelnden Quell kommunaler Einnahmen. Vielleicht bezahlt Montabaur Pfleger und Kindergärtner im nächsten Jahr wie Geschäftsführer von 1 und 1? – wer weiß.
Helter Skelter
Die Montabaurer Senke vereint also ein Amalgam von Autobahn/ Eisenbahn/ Gewerbefläche, deren pulsierendes Zentrum das fashion outlet center bildet. Immerhin war man nicht so unverschämt, diese Abverkaufsstelle chinesischer Containerladungen factory outlet zu nennen. Wir schreiben den 27 ten Dezember und es sieht ganz danach aus, als beginne das eigentliche Fest hier erst nach dem Fest.
Es ist das Fest der eingelösten Gutscheine, der umgetauschten Neuware werden; ein 4 Meter hoher Weihnachtsmann, unter dessen aufgepumpter Plastikhaut man Schokolade vermuten könnte, bewacht die emsigen Kunden beim Ein- und Ausströmen.
Bungalow Bill
Über eine Seufzerbrücke führt es geradewegs in das leuchtende Universum günstiger Waren. Das Bild gleicht dem der Jahre seit Eröffnung 2015. Kein Grund zur Sorge, die beschworene Zeitenwende, die Auswirkungen gestiegener Preise ist hier nicht wirklich zu erkennen. In seiner freien Zeit zwischen den Jahren holt der Mittelstand neue Waren und beweist, daß es ihm gut geht. Aber wer weiß: vielleicht machen Tausende hier von Ihrem Geld –Zurück –Recht Gebrauch?
Goodbye altes Jahr, Hello Zeitenwende – mit einer Prise Salz. Die Kartenhäuser der Gewerbefinanzierung fielen sonst zusammen. Das Raunen und Murmeln lässt uns näher um den heiligen Baum zusammenrücken.
Savoy Truffle
Schauplatz nebenan – an einer Jet Tankstelle (die gut besucht ist) kostet ein 30gramm Riegel von Ferrero 1Euro30.Da Kilopreise an der Ware nur im Supermarkt verpflichtend sind, überschlage ich geschwind auf fast 40 Euro das Kilo. Man kann mich für geizig halten, weil ich mich immer noch mit 6 statt 12 Ritzeln begnüge, aber die handverlesene Rehkeule vom Festessen war deutlich günstiger.
Doch die Westerwälder wären keine tüchtigen Leute, wenn sie nicht schon einen Schritt weiter über die Tore ihres outlets gedacht hätten. Nur wenige Kilometer zuvor habe ich eine Entdeckung gemacht:::::
Everybody s got somethin g to hide – except form e and my monkey
In dieser riesigen Halle laufen Förderbänder, verdichten Bagger tonnenweise Verpackungs- und andere Erdölderivative – was eben nach zwei Monaten von den fashion-outlet-Gutscheinen übrigbleibt. Fast alles wird verbrannt, oder verschifft – weit weg von uns, unsere Dörfer sollen schöner bleiben. Hello 2023.
courtesy aida tours – ich bin dann mal weg
Danke fuer deinen schoenen Beitrag, der mich mal wieder nostalgisch stimmt.
Als meine Eltern mir anno dazumal zum Anlass meiner Menarche einen Ring schenken wollten, den ich mir aussuchen sollte, winkte ich ab:
„Was soll ich mit einem Ring, den ich eh nicht trage? Schenkt mir lieber das weisse Album von den Beatles auf CD!“
Eine weise Entscheidung zum Eintritt der Pubertaet.
Viele Gruesse aus dem Yukon,
Luisa
Was für eine schöne Erinnerung. Vielen Dank! das weiße Album hat die Zeit überwunden, wenn es meine Kleinste genauso in seinen bann schlägt wie damals uns.