Ubbelohde an Eder und Lahn  – Gießen 200, November 23

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Ein kleiner Schotterweg (fahrbar für 25mm Reifen), ein paar umzäunte Wiesen auf denen Alpacas grasen, ein Mann, der Gehölz zurückschneidet. Dahinter die Silhouette eines langen Holzhauses auf Sandsteinsockel. Die Welt, die sich der Maler Otto Ubbelohde um 1900 hier im Lahntal erschaffen hat, ist so gut wie unverändert. Einige Kilometer entfernt davon verläuft der Track des Gießener Novemberbrevets 200, der mich herbrachte. Gleich werde ich die letzten 40 Kilometer in Angriff nehmen, weiter über sanfte Kuppen, die Ubbelohdes Welt waren .

Der letzte Brevet des Jahres ist immer ein kleiner Wetterpoker. Noch ist Herbst, noch hält sich das Laub und der Winter deutet nur leicht an, wie er Radfahrern (und anderen) das Leben sauer machen kann. tatsächlich – die Scheiben Gießens geparkter Autos sind allesamt weiß, als ich das gents touring aus dem Wagen ziehe. Es hat plötzlich gefroren. Obacht: hie und da ist nicht gestreut.  

Fürsorglich und sorgenvoll mahnt  uns Streckenautor C. Schulz beim Einschreiben, lieber nicht den ursprünglichen Weg zu fahren, der schmale Feldweg über einen Höhenzug bei km 20 ist vermutlich vereist – Sturzgefahr .

A startZufällig entdecke ich unter den Startern den erfahrenen Werner W, 5facher Paris Brest Veteran, der mir vor fast zehn Jahren erste gute Ratschläge eines Randonneurs auf den Weg gab. Ich esse immer noch mehr als er.  Gemeinsam beschließen wir, die Warnungen des Veranstalters in den Wind zu schlagen und wählen die Ursprungsroute hinauf zum Edersee. Auf eigene Gefahr.

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Die restlichen Navis piepsen und die Apps speisen die Streckenänderung intelligent ein; mit dem MTB Teilnehmer, in dem ich unschwer einen der schnellsten Fahrer des Vorjahres erkenne, gehen wir kurz nach 8 die Runde an –  frisch, aber nicht frostig, wolkig, nicht hoffnungslos vernebelt. Schon nach der zweiten Ampel summt der Mountainbiker davon. Wir werden ihn nicht wiedersehen. Gut, wenn der Pilotfisch durch ist.

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Auf der Route nach Norden nehmen wir bald die ersten Steigungen in die abgelegenen Waldstücke hinter dem Lumdatal, ziehen im gemeinsamen Gespräch durch die Dörfer.

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Werner hat sich eine neue Maschine gegönnt. „Endlich Farbe im Programm“. Er ist bei Aluminium und Felgenbremse geblieben, die großen Durchläufe erlauben ihm 32mm breite Contis und eine gegabelte Sattelstütze sorgt für weiteren Komfort. Der Freilauf macht ein angenehmes Geräusch: hier steckt das Geld drin, sagt Werner.

Die Dörfer ziehen vorbei, Fachwerk um Fachwerk, morgenruhig und unbelebt – noch so, wie Otto Ubbelohde sie sah. Aus Höfen riecht es teilweise würzig,  es dampft an der Mauer.

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Dann der Anstieg, ein schmaler, leicht holpriger  Feldweg mit wilden Obstbäumen rechts und links. Gut steil aber zunächst unverdächtig. Mein drittes Blatt hilft – erst recht, als kurz vor dem Waldsaum das Hinterrad durchdreht. Wir suchen uns auf dem Weg eine sichere Route, umfahren die kleinen Eisflecken. Der Wald kommt und ich sehe: an der Baumseite ist kein Frost. Kuppe erreicht.Nun aber heißt es hinunterkommen und da liegt vermutlich das Risiko.

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Doch das Gefälle ist mild, der Weg trocken und leicht verdreckt, ich kann die große Aussicht genießen. Es knistert kristallin, die Bauern haben vorgesorgt, auch sie wollen mit ihren fahrbaren Felddrachen sicher hinunterwalzen und haben uns einen Salzteppich ausgebreitet…

Weit hinten war Schnee zu sehen, so ab 400 Höhenmetern. Dort, wo Frau Holle arbeitet müssen wir hin, aber gemach – erstmal heil ins Ohmtal gelangen, wo wir auf die übrigen Starter treffen sollten. .

oub3Otto Ubbelohde ist ein Maler, der eigentlich nicht als Maler berühmt wurde, sondern als Illustrator. Die https://literaturkritik.de/id/17417 Märchen der Gebrüder Grimm wurden von ihm an der Wende zum vorletzten Jahrhundert illustriert und 1906 dreibändig im Turm Verlag veröffentlicht.

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Generationen sahen in ihrer Kindheit einen Ubbelohde, ohne den Maler zu kennen. Die Radierungen und Federzeichnungen signierte er einfach O.U. und noch mehr werden die ihm nachfolgenden Zeichner gesehen, die sich an seinen Stil anlehnten. Achten Sie auf Qualität bei der Bücherwahl!  

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Die Kompositionen seiner Zeichnungen sind japanischen Holzschnitten angelehnt, die ab 1880 in der europäischen Kunstwelt sehr populär wurden.

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Ubbelohde verwendet eine sichere, grafische Umrißlinie für seine  Vignetten – ein Vorläufer der Kunst des comics. Die Märchen selber, ein Konvolut zusammengetragener Erzählungen, spielen in einer nicht näher bestimmten, „mittelalten“ Vergangenheit, von den Gebäuden und Landschaften her sind es die Burgen und Höhenzüge der hessischen Landschaft, durch die ich mich gerade bewege. Interessant, wenn man bedenkt, das dabei Geschichten auch aus Frankreich und anderen Landstrichen zusammengetragen wurden. Für hunderttausende Kinder (und ältere Leser) schufen Ubbelohdes Zeichnungen der Vorstellungskraft einen wundervollen Raum.

Nach Haina geht es in einer scharfen Stufe aufwärts, den Höhenzug des Kellerwalds überwinden.

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Gleich hier beginnt der Schnee – vermutlich war das schon immer so. Die Mönche im Tal, der Schnee auf den Feldern. Es ist satt gestreut, mit jeder Schneestange wird das Weiß etwas dichter, der Winter beginnt früher.

Bei 571 Metern endet der Anstieg und dann geht es  über die Landstraße hinab ins eisfreie Bad Wildungen. Abfahrten sind immer Glücksmomente.

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Am Ende derStadt bei Kilometer 80 die erste Kontrolle hinter der Edeka Tür, die ersten nennenswerten Kalorien auch. Zwei Fruchtriegel (à 40g) auf drei Stunden waren nun nicht zuviel. Bei knapp Null Grad schluckt der Thermostat in Dir viele Kalorien.An der ersten Kontrollstelle finden sich die Scharen oft nochmals zusammen. Trotz „risikofreier“ Streckenwahl gab es den ein- oder anderen Ausrutscher, wie wir hören; Folgenlos.  

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Gemeinsam rollen wir zum Edersee hinunter, der Windschatten einer Gruppe tut gut, sogar wenn die Sonne kurz aufblitzt. Eine besonders markante Wehrkirche säumt den Weg, die rauschende Eder wird überquert. An den Knicken jault der Chor der nassen Scheibenbremsen.

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Vor einem Jahr noch war dieser Stausee erschreckend leer, heute ist er gut gefüllt, die kleinen Inselchen ragen wie Walrücken heraus. Klima-Entwarnung für diese Saison. Das Wetter ist leicht schaurig, aber eindeutig im plus, die Wolkendecke nicht allzu dicke. Mit den Kalorien einer fetten Marzipanstange, eines Kaffees und einer Mandarine im Blut wird mir wohlig warm. Nach letzten steilen Rampen kommt die Bäckerei am Edersee, Halbzeit der Strecke und zweite Station, bevor es wieder in den Süden geht. Stille Dörfer ziehen vorbei.

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Im Café „Edersee“ werden nochmals richtig Kalorien für den Rückweg getankt,  denn es gibt bis ins Ziel keine Kontrolle mehr, die Versorgungspunkte sind dünn gesät.

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Mit einem langen Flachstück beginnen die zweiten hundert Kilometer. Südwärts führt die Bundesstraße eine Stunde lang Richtung Frankenberg. Der Streckenplaner war gnädig, er hätte uns wie beim 600er, über die kleinen Höhenzüge schicken können. Mir gefällt es im gleichmäßigen Takt an den kleinen Türmen entlang , auch wenn Autos vorbeiziehen, auch wenn die Strecke feucht ist, einmal im Rhythmus sind es geschenkte Meilen.

Es geht dabei unmerklich bergan– die Gegenströmung der Eder zur Rechten zeigt es.  

at7Nach dem unauffälligen Frankenberg (teilsaniert und gleichzeitig von Entkernung gezeichnet) geht es weiter hinauf in die waldigen Ausläufer des Burgwalds, den wir auf dem Hinweg östlich gestreift hatten. Danach beginnt das eigentliche Land Otto Ubbelohdes, der Radius von 20 Kilometern, aus dem seine gemalte Welt entsteht.

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Gruppen ziehen sich auseinander und finden zusammen. Wieder geht es durch Fachwerk und an Höfen vorbei, soviele Details.

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Die eindrucksvolle kleine Stadt Wetter mit massiven, schmuckreichen Bürgerhäusern. Seit einer Weile wieder mit Werner unterwegs. Im eigenen Rhythmus.

Eine gnädige späte Sonne streift uns, wirft das sanfte Licht, das den Landschaften Ubbelohdes entspricht: keine schroffen Farbkontraste, keine Experimente. Einfache, reduzierte Formen, angedeutete Lichteffekte, stilisierte Wolken und Bäume – mehr Umriß als Struktur –  beinahe dekorativ.

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Und dann das von eigener Hand entworfene Haus. Ubbelohde war nicht unvermögend und dank Grimm ein gut beschäftigter Auftragsillustrator. Das Haus passt: schlichte, solide Form, gutes Material, gediegene Ausführung. Jetzt ist es Museum. Die Moderne kennt zwei Strömungen: Ablehnung und Avantgarde.

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Mit dem Kunst – und Zivilisationskritiker Ruskin kommt eine erste Stimme, die sich gegen die Beschleunigung und Industrialisierung stellt,  die das Handwerk und das Selbstgemachte in den Mittelpunkt einer Gegenströmung stellt.

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Das passte gut in die Ritter- und Edelfrauenwelt der englischen Präraffaeliten, die Wiener Symbolisten mit ihren opiumlasziven Damen, aber auch gut zu Märchenwelten und der Deutschen Reformbewegung, ihren weißen Kleidern und dem „Zurück zur Natur“. Ubbelohde war erklärter Anhänger , ein Verfechter natürlicher Lebensräume der ersten Stunde.

Mit seiner Frau träumte er hier in Gossfelden von Autarkie, hielt sich Schweine und Hühner, legte einen Bienengarten an –  Ironie der Geschichte, daß Bienen 100 jahre später zum Wahlkampfmotiv werden. Ubbelohde ist kein Einzelgänger in der Gartenkolonie Eden bei Oranienburg gründet zeitgleich ein immer noch aktiver Keim der Reformbewegung,  die uns vor allem durch ihre Läden bekannt ist.  

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Und so malt auch Ubbelohde: Landschaft als Weltanschauung. Keine Schornsteine, keine Bahnlinie, nicht einmal Menschen in dieser Welt. Auch keine Experimente in Form und Ausdruck, ein paar impressionistische Farbtechniken, ein wenig stilisierende Einfachheit, ruhige, großflächige Panoramen. Aber eben auch nichts, was irgendeine Begeisterung vermittelt, die sein Zeitgenosse Leistikow noch aus den (eigentlich) harmlosesten Kiefernwäldern holte.

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Nur wenige hundert Meter hinter dem Haus und der ruhigen Lahn wartet der schon ganz normale Alltag der Gewerbegebäude und Gebrauchtwagenhändler, die Kreisverkehre, die mich zu einem letzten Kalorienschub führen.Dann geht es über die Dörfer und ein paar sanfte Wellen, Dörfer, die tatsächlich Dagobertshausen heißen zurück nach Gießen während der Novembertag versinkt.

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Es bleibt trocken und die Kilometer vergehen wie im Flug. Und das behält man dann im Gedächtnis. Genauso wie die Wolken, die erst Herbst – dann Nachmittags- und am Ende Scheewolken waren. (P.Kurzeck)

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– Darauf ein frisches Helles.

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4 Antworten zu Ubbelohde an Eder und Lahn  – Gießen 200, November 23

  1. randonneurdidier schreibt:

    Herrlich! Jetzt kenne ich OU und seine Landschaften dazu. Launig und informativ, gewürzt mit Randonneuren, Kultur, Natur. Ein Hochgenuss! Danke dafür Christoph

  2. crispsanders schreibt:

    vielen dank für das Lob – mein Wunsch: mehr Märchen lesen, manche Wahrheiten altern nicht.

  3. Werner W. schreibt:

    Sehr schöner Bericht von unserem 2ooer. Bis zum nächsten Mal.
    Guten Rutsch und herzliche Grüße,
    Werner

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