Klassiker des Winters 2015

090215 Klassiker des Winters

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Man soll nichts beschwören und totgesagte leben länger (ja, vom Krautscheid gibt es bald neues), aber langsam kristallisiert sich der Klassiker des Winters heraus. Das Rad, welches mir über die dunklen Tage am meisten Freude macht, ist die gute alte, rotweiße Gazelle.

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Dieses Rad bewege ich so gern, daß ich es für den nächsten Monat sogar zu den Klassikern des Monats stellen werde, die im Klassikerforum des tour Magazin gekürt werden.

 

Dort ist es üblich, jeden Monat aus der unübersehbaren Zahl schöner alter Räder immer neue Schätze auszugraben und der Allgemeinheit zur Wahl zu stellen. Ich habe bereits teilgenommen und allenfalls Ehrenplätze belegt. Auch diese Gazelle erfüllt nicht den hohen Anspruch, besonders selten, besonders gepflegt und besonders hochwertig zu sein. Es wird gegen die dort (auch von mir) bewunderten Rickerts, Colnagos, Giosse und wie sie alle heißen kaum eine Chance haben.

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Doch es wird eines der ganz wenigen Räder sein, die in diesen letzten Monaten richtig bewegt und auf Herz und Nieren geprüft wurden. Herz und Nieren bedeutet:  bei Regen, Hagel und Schnee, Bremsen auf holprigen, unübersichtlichen Abfahrten, freihändig im Schuß, um die Digitalknipse in die Tasche zu bekommen etc. etc.

 

Das alles hat es gemacht und zwar so, daß ich mich immer sicher und wohl gefühlt habe. Darum gebe ich der Gazelle hier den Vorzug einer Einzelbeschreibung, so wie ich sie auch im TourForum machen werde.

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Rahmen

 

Der Rahmen ist ein Produkt aus den Jahren 1974/75, ganz genau läßt sich das ( Rnr. 315xxxx ) nicht bestimmen – der butterfly Bremssteg in seiner schlichten Form deutet auf das ältere Datum. Er hat eine Höhe von 62cm c-t und eine Länge von 57,5 m-m. Die Ausfallenden sind lange Campagnolo 1010, die Gabel sollte eine Nervex-Krone tragen . Die Muffen sind ebenfalls von Nervex –hier beziehe ich mich auf ein ähnliches Rad, das RichardSachs vorstellt. Räder aus jener Zeit haben eine Hinterachsweite von 120mm für 5fach Ritzel – dieses hier aber verträgt 6/7fach und ist eindeutig 126mm breit. Genau wie die Decals und Schriftzüge der fa. Reynolds nicht epochengerecht sind, ist auch der Lack aus einem späteren Farbschema.

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In Dieren konnte man seine champion-mondial rahmen für 50 Gulden nachlackieren lassen, und ich denke, als das mit diesem Rahmen geschah, wurde der Hinterbau entsprechend aufgeweitet, um für „moderne“ Hinterräder gerüstet zu sein

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Dieser also alles andere als historisch korrekte Rahmen wog mit Innnenlager knapp 3kg, ein völlig normales gewicht für einen rahmen incl. Gabel aus 531r Reynolds. Neben den schmalen hinterbauten ist für die frühen 1970er Jahre ein weiteres Merkmal typisch: die hohen Durchläufe. Sie gestatten die Verwendung von breiteren Reifen aber auch von Schutzblechen – worauf die vorhandenen Ösen verweisen.

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Darum kommen für ein solches Rad nur Bremsen mit langen Schenkeln infrage, länger jedenfalls als das übliche 39-49 Maß. Es bieten sich aus jener zeit so einige Bremsen an: Universal, Campagnolo oder die ersten Shimano Dura Ace, wie ich Sie gewählt habe. Diese Bremsen sind sehr schön und aufwendig ausgeführt, ihre Einstellung mit einem flachen 13er und einem 10er nicht gerade einfach ,aber wenn sie einmal passen, dann passen sie.

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Dazu nahm ich dura ace Bremshebel, aber nicht die ganz alten, historisch korrekten, denn die müssen mit eigenen Schellendurchmessern und einer Hutmutter befestigt werden, was , verglichen mit der einfachen Inbusschraube die sich dann universell durchsetzte, ein Kreuz ist. Ebenfalls habe ich auf die original-bremsschuhe verzichtet, denn 35jahre alten Gummibelägen vertraue ich lieber nicht. Da hat sich sehr viel getan und moderne Beläge, die ja in verschiedenen Härten erhältlich sind , tun es nun einmal auch sehr gut.

 

Bei der Schaltung ging icheinen gemischten Weg, denn bei Gazelle wurden die angelöteten Schalthebelgewinde für Campagnolo ausgelegt. Friktionsschaltungen sind alles andere als proprietär, und so war ich nicht gezwungen, nach einer Campaschaltung auszuschauen sondern ergriff die Gelegenheit, als die leichteste Schaltung des Marktes, die auch die modernste war, erschwinglich in meiner Nähe auftauchte. Es ist die wundervoll gefinishte Suntour cyclone, weniger massiv als die professionelle Superbe oder Shimano, aber die Gänge haue ich schließlich nicht gerade mit Gewalt hinein.

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Natürlich war ich ein wenig besorgt, als ich las, das SunTour für dieses Schaltwerk nur 24 Zähne als maximale zahl angab, und es war tatsächlich gar nicht leicht, auf den berggang zu kommen. Ich drehte und zog, so richtig glücklich wurde ich nicht. Erst als ich Schaltseil und vor allem eine längere kabelhülle nahm, wurde die „cyclone“ ihrem Ruf gerecht.

 

Der Zufall verhalf mir zu der Shimano Arabesque kurbel, die , mit passendem innenlager gerade aus einem demolierten Rahmen befreit wurde als ich den kleinen Radladen in Diez betrat.

Die 600 „Arabesque“ ist eine der vielen Campa-klone jener zeit, nur hat Sie durch den Lochkreis den vorteil, 38 als kleinstes Kettenblatt zu verkraften. Echte Campa-recken waren auf solche Rentnergrößen seinerzeit nicht angewiesen: ich bin es heute, da sich 34 als kleines Blatt allgemein durchsetzt ,dennoch gern.

 

Damit habe ich Antrieb, bremsen und Schaltung zusammen.

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Bei den laufrädern habe ich die frühen Module E gewählt, mit die ersten Felgen für Rennreifen auf haken. Ein paar sonnenblumengelbe Continental 3000 mit noch sehr frischem Profil kaufte ich gebraucht und sie erfreuen nicht nur mein Auge an dunkeln Regentagen, wenn die schmale Wasserrinne über sie läuft. Ich hoffe nur, ich finde eines Tages ein weiteres Paar. Die Naben wiederum sind  frühe (1978) , butterweich laufende Dura Ace. Indem ich die Nabenkörper regelmäßig mit Sattelwachs einstreiche, verhindere ich erfolgreich das Eindringen von Schmutz, Salz und Wasser.

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Der Dura Ace freilauf erzeugt eines der schönsten Geräusche, die je an einem Rennrad zu hören waren.

Exif_JPEG_PICTURE Der „SR“ Vorbau ist mit 10cm nicht allzu lang, was aber leicht durch den sehr weit und tief reichenden Lenker Sakae „Road Champion“ kompensiert wird. Dieser Lenker war seinerzeit sehr weit an rennrädern verbreitet, die nicht mit italienischen Komponenten ausgestattet waren. Er ist folglich auch heute noch eine sehr günstig Alternative zu den Cinellis und ttt, die ausschließlich von Champions gefahren werden. nach meiner Waage sind die Sakae Modelle oft leichter als die genannten ,es haftet ihnen aber weniger Lorbeer an.

 

Die Sattelstütze, die meinen Brooks trägt, ist von Gipiemme, es hätte auch eine andere sein können, aber form und Farbe gefielen mir und die Klemmung erlaubt eine problemose Einstellung. Der Brooks Swift ist das i-Tüpfelchen auf dem Rad. Es ist mein erster Brooks und nach einigen 100 km Einfahrzeit, ich schrieb seinerzeit vom 200er in Troisdorf, bin ich jedes Mal vom seinem Komfort überrascht, wenn ich mich auf die Gazelle schwinge. Ich habe mir neulich noch einen bestellt. Nicht, daß der Rolls unfahrbar wäre, im Gegenteil, aber das Gefühl, sich auf den anatomisch angepaßten Sattel zu setzen, ist ein völlig anderes.

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Bei den Pedalen bin ich schon vor jahren vom Haken- bzw. Schlaufenpedal abgekommen und die Erfahrung meiner Stürze wird mich auch nie dorthin zurückführen. Da Hakenpedale sich nicht von selbst öffnen , sind sie mir einfach zu gefährlich. Darum findet sich auch hier ein älteres Paar 6500er – SPD klicks, aus der Zeit, als Shimano noch Rennpedale für das vor 25 Jahren eingeführte System anbot. Perfekt, wenn man im Winter mit Stiefeln unterwegs ist, was ich jedem raten möchte, der nicht frieren will.

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Die Gazelle ist schon ein ordentliches Rad – bin gespannt, gegen welche Rassestücke dieser Unimog dann im nächsten Monat antritt.

 

 

 

 

 

 

 

 

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11 Antworten zu Klassiker des Winters 2015

  1. bikesnob28hb schreibt:

    Schön. Danke dafür.

  2. mark793 schreibt:

    Nachdem sich die Gazelle in den Berichten der vergangenen Monate recht rar gemacht hat, bin ich von dieser Kür jetzt ein bisschen überrascht. Aber nichtsdestotrotz finde ich die Detailbeschreibung mal wieder überaus lehrreich.

  3. crispsanders schreibt:

    mangels eines echten Winterrades, das wäre ein Rad, welches wie eine Opferanode Schmutz Wasser und Salz ausgesetzt würde, mangels eines solchen Rades fahre ich also beinahe alle Räder wechselweise. Ausnahme ist das Vitus mit den geklebten Muffen , die möchte ich nicht gefährden. Das Ergebnis ist ein subjektives „Wohlfühl“-Ranking , bei der es einen Sieger geben mußte und das war die rotweiße Gazelle.

    • mark793 schreibt:

      Und würde dieser Pokal nicht zu einem anderen Rad wandern, wenn Du den Sattel sagenwirmal an das SNEL oder ans Carlton Raleigh transferierstest?

      Meine Räder liegen ja wie gesagt typmäßig ein bisschen weiter auseinander, und so kann ich sehr eindeutig begründen, warum es Olmo, Koga und Peugeot-Bastelprojekt bei mir nicht aufs Treppchen schaffen. Monsieur Mercier, mit dessen von Sir Walter etwas abweichenden Geometrie ich anfangs etwas fremdelte, ist eindeutig das komfortabelste Rad in meinem Stall. Das Koga lässt sich zwar geringfügig leichter bewegen, aber der brettharte Alurahmen bringt Abzüge auf nicht so perfektem Terrain, beim Olmo stört der „toe overlap“ etwas, und auf dem Peugeot sitze ich ein bisschen tief, zudem bräuchte es eine kürzere Innenlagerwelle, damit man nicht so breitbeinig treten muss. Davon abgesehen ist aber die Sitzposition recht gut ausbalanciert.

      Und interessanterweise schlafen mir auf den beiden Rädern mit regulären Rennlenkern die Hände öfters ein als auf beiden Rädern mit Hornlenkern.

  4. crispsanders schreibt:

    Ich glaube, da geht vieles: an verschiedene Geometrien kann man sich nach 1h fahrt sicher gut anpassen, vor allem im „Freizeitbereich“. Solange dem Körper nichts extremes abverlangt wird, sagen wir 30min Unterlenker mit maximalbelastung und falscher Geometrie, solange also kein Wettbewerbsmodus vorliegt, wird auch der nächste Tag nicht zur Strafe.
    Für das Fahrverhalten von Rädern reichen aber schon Zentimeter aus, um einen großen Unterschied zu erzeugen. Der Mann hinter der Rahmenfirma „vagabonde“ beispielsweise sagt, daß eine Verlängerung der Kettenstrebe um 1cm den Komfort deutlich erhöht. Wie stark der Fahrer das empfindet oder nicht, steht auf einem anderen Blatt.
    9inwiefern lenker zu Taubheitsgefühlen führen, hängt nicht grundsätzlich von der lenkerform ab, sondern davon, wie stark Druckpunkte im handballen belastet werden. Hier wiederum ist das Rennrad aufgrund von Sitzposition und Überhöhung maßgeblich. das Rennrad ist orthopädisch sicher das „schwierigste“ Rad, da es die maximale körperliche Anpassung erfordert.

    Meine eigene Wertung ist allerdings nicht nur dem Sattel geschuldet . . . . .

    • mark793 schreibt:

      Dass Taubheitsgefühle in den Händen nicht primär von der Lenkerform verhindert oder verursacht werden, ist mir schon bewusst. Ich finde es nur witzig vor dem Hintergrund, dass mir einige Leute geweissagt hatten, ich würde mit Horn- oder Zeitfahrlenker dieses Problem eher kriegen als mit einem Rennbügel, weil man bei letzterem mehr Griffvariationen habe. Ich hatte daran seit jeher Zweifel, und wie Du richtig sagst ist es die Gewichtsverteilung, die sich aus der Sitzhaltung ergibt, und die wiederum hängt nicht zuletzt an der gewählten Überhöhung und der Streckung, die sich aus dem Abstand zwischen Sattel und Lenker ergbibt.

      Was den Zusammenhang von Komfort und Kettenstrebenlänge angeht, gestehe ich dem Fachmann gerne zu, dass das ein Faktor ist, aber ob 1 cm für jeden einen nennenswerten Unterschied macht, steht dahin. Ich neige weiterhin dazu, die Oberrohrlänge im Zweifelsfall für komfortrelevanter zu halten.

  5. crispsanders schreibt:

    Schön, daß meine Antwort irgendwann gesendet wurde – es gibt immer wieder Probleme mit meinem Steinzeit lenovo (Arbeitsspeicher) oder dem Bauernnetz . . . .

    OR sicher auch, aber dann sprechen wir von Rahmengeometrie, Rahmenmaterial etc. kettenstrebe und Gabel sind in ihrem Beitrag zum fahrverhalten überschaubar.

    und die Unzahl an Sattelvarianten zeigt, daß taube Hände sicher die kleinere Problemzone sind.

    • mark793 schreibt:

      Oh ja, das Sitzmöbel-Problem. Hatte hier ja das Phänomen, dass der Iscaselle Triathlon, der mir auf dem Raleigh immer ausreichend Sitzkomfort geboten hatte, am Mercier auf längeren Strecken auf einmal Beschwer verursachte. Was wohl auch damit zusammenhing, dass ich aufgrund der abweichenden Rahmengeometrie die Sitzposition vom Vorgängerrad nicht 1:1 reproduzieren konnte. Entsprechend gibt es auch keine Gewähr, dass der Sattel vom Leihrad auf Mallorca, auf dem ich ganz gut saß, an meinem eigenen Rad dauerhaft den gleichen Sitzkomfort bietet. Das werde ich erst genauer wissen, wenn ich mal wieder die 150-Kilometer-Marke hinter mir gelassen habe.

      • crispsanders schreibt:

        Dabei sind die Sitzmöbel eben nicht das Problem: es ist das Rennrad, welches durch seine spezifische Position ein bestimmtes training erfordert. Die groben Anhaltspunkte, die für den eigenen Körper beste Position zu finden sind seit 100 Jahren bekannt – aber ohne die permanente Übung nutzt es nichts….

      • mark793 schreibt:

        Hmja, dass der eine Sattel am anderen Rad irgendwann nicht mehr so komfortabel war, spricht schon für Deine Annahme. Aber das Problem ließ sich leider auch nicht einfach wegtrainieren.

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