Erstmal geschafft. Das Krautscheid trifft am Gleis 1 im Stadtbahnhof Limburg ein und schnell fällt auf, daß viele Maske tragen –. Oh ! Es ist kurz nach Sechs, der Automat funktioniert, die Fahrkarte ist an diesem Morgen des 21ten Januar 023 noch handwarm. In einer Viertelstunde fährt der Zug. In einer Ecke leert ein junger Mann seine Dose Red Bull, bevor er sich eine Zigarette ansteckt. Die Maske baumelt lose um den unrasierten Hals. Auch mein Hals ist unrasiert, aber es hängt keine Maske dran.
Mann ohne Maske
Der Deutschen Bahn ist die Rasur ihrer Fahrgäste gleichgültig. Die 5 Taschen meiner leuchtend gelben Jacke enthalten vieles, nur kein Stück Maskenstoff… ich schreite die Bahnsteige auf und ab und sehe in die Gleisbetten. Über mir im Gleis bullert das 300 kW Dieseltriebewerk der Kleinbahn nach Siershahn. Sie hat die Scheinwerfer schon eingeschaltet und unmittelbar vor den Puffern liegt es, das archäologische Objekt meiner Begierde: eine taufeuchte blaue Maske. Zustand ? NOS! Ich mache dem Lokführer ein kurzes Zeichen und steige ins Gleisbett.
Das Hupen der Lok klingelt noch in meinen Ohren, als ich im letzten Waggon eines 150 Meter langen Zuges sitze und die Augen schließe: mit Maske. Um 7h 39 steige ich unter der riesigen Kuppel des Frankfurter Hauptbahnhofs aus, der schon um diese Zeit von wirr stammelnden Männern unklarer Herkunft umgeben ist. Das schwache Blau draußen verrät die Dämmerung, die über die große Brücke am Main kommt. wieder und wieder bitte ich das Gerät am Lenker um Satellitenempfang. Frankfurt scheint eine Reihe elektromagnetischer Schutzfelder zu besitzen, erst kurz vor der großen Unterführung klappts. Ein magentafarbener Streifen führt mich geradewegs hinaus aus der Stadt.
Die anderen sind schon unterwegs – sie haben eine Viertelstunde Vorsprung vom Südbahnhof aus. Die Darmstädter Landstraße liegt vor mir wie ein langer grauer Bleistift, an dessen Spitze ein rotes Ampellicht blinkt. Neu Isenburg, ich sehe den Stadtplan auf dem kleinen Display.
Neu Isenburg hat eine ganze reihe Ampeln, die das Schachbrett der Siedlung unterbrechen. Leider hat sich hinter mir eine Polizeistreife festgesetzt, die gerade vom Bäcker kam. Drei Ampeln weiter schüttele ich sie links ab, vorbei am Friedhof, vorbei an Forstleuten (die keine Radfahrer gesehen haben) und über die Autobahn 5 hinweg.
Die Stadt liegt hinter mir, ich werde sie erst bei Dunkelheit wiedersehen. Jetzt beginnt die Fahrt gegen den Wind und hinter den Mitfahrern her. Nach einem dutzend Kilometern erkenne ich dünne Streifen an den noch feuchten Stellen. Der Tag ist da, grau, diffus und der Südwest mein Gegner. Der heutige Parcours ist 204 km lang und ab km 50 beginnen die Anstiege in den Odenwald, den wir der Länge nach durchfahren. Die Temperatur ist wirklich erträglich, Meine dünnen Handschuhe reichen völlig, ich bin sowieso von dem Einzelzeitfahren hier durchgeschwitzt.
An die jetzt schon fast dörflichen Orte haben Neubaugebiete angedockt, die traditionell nur eine Farbe kennen. In den 1960ern waren es ein eierschaliges Weiß, unser letztes Jahrzehnt hat Grau zur Schmuckfarbe der Zukunft erhoben. Pflegeleicht, ordentlich, wertbeständig.
Lieder des Unterlenkers
Eine Stunde Unterlenker schon und immer noch niemand zu sehen, auch nicht, als eine weiter, endlose Gerade vor mir durch die leere Provinz zieht. Ich sehe auf die Uhr und nach drei Minuten ist die Gerade hinter Messel vorbei. Niemand zu sehen, also 5 Minuten Rückstand, mindestens. Aber da ist wieder eine Fahrradspur, und noch eine: diesmal war es keine Pedelec –Omi, die zum Bäcker wollte.
Rechts in eine Spielstraße und dann siehst Du sie, die Leuchtjacken kleinen roten Rücklichter.
Jetzt an dieser Kreuzung hat das Leiden ein Ende, entspanntes Rollen in der Gruppe. Dieburg mit Schreibwarenladen. Malkästen, Bleistifte, Radiergummis und der erste Füller. In Indien, können die Bürger mit ihren Verwaltungen über Fingerabdruck und Iris –Scanner kommunizieren. Sie brauchen nur eine Stromquelle und ein Endgerät- die Alphabetisierung , die Notwendigkeit von Papier und Stift, kann übersprungen werden. Iris und Daumen reichen als Nachweis der würdigen Existenz.
Hier gibt es ein paar Schleichwege, mit denen wir uns langsam an die graugrüne Linie des Odenwalds herantasten. Der O., our Leader, biegt kurz ab, weil er noch eine Kachel „einfahren“ will. Eine Art digitaler Ernte.
Wir warten kurz auf einem Höhenzug, der unser kommendes Schicksal andeutet: Regenschwaden wabern zwischen den grünen Hügeln. Das ist für uns, früher oder später. Anstiege, Abfahrten und ein bisschen feuchte Luft. Wir ziehen Regenjacken an und ich bin froh um das zweite Paar Handschuhe, das hinter mir im Trockenen wartet.
Die erste Gischtwolke haben wir in diesem Ort hinter uns. Eine Ukraine – Flagge weht am Schlößchen. Mit einem Flyer verkündet man zu Ostern die Weihnachtsbaumverbrennung. Nun sind wir drin, in unserem Odenwald, weder eintönig noch aufgeregt, eine sanfte Landschaft, die auch mitten im Winter niemanden schrecken muß.
Lost Sextapes
Wir sehen uns alle am Saum der Landstraße wieder. Aus dem Ostertal führt ein schmaler steiler Weg zwischen die Höfe hinauf.
Our leader hat uns eine Diretissima auferlegt und der K nimmt die Sache sportlich auf dem 42er Blatt. Der Rest ächzt und keucht hinterher. Ein goldschimmernder Benz grüßt vom Schuppen her.
Oben: das ist ein großes Haus mit Nummern auf den Blechtüren. Ein rotes Herz an der Landstraße deutet auf die Bestimmung des Objekts. Man hätte solche Anwesen schon mit 50 BewohnerInnen vorgefunden, bemerkt hier der K., es seien aber recht kurzlebige Unternehmen. Fachkräftemangel ist das Wort der Saison. Wir sinnen nicht weiter nach und freuen uns auf das Treffen mit U. , der (nichts ahnend) an einer Waldkreuzung in 5 Minuten wartet.
Der Regen hat sich als eher flüchtig erwiesen, kurz und feucht, vielleicht sind wir schon tief genug im Wald und die Kante des Mittelgebirges hat die Wolken bereits gemolken. Umso besser Die Etappe in Beerfelden kommt nach den nächsten Hügeln, ein Kulturdenkmal kündet die Stadt an.
Richtstatt über Beerfelden
Die Häuser sind alt und prachtvoll. Der lokale rote Sandstein prägt. Aber etwas fehlt. An diesem Städtchen, dem einzigen in einem Umkreis von vielleicht 20km, sind die letzten 20 Jahre nicht spurlos vorübergegangen. Was nutzt die architektonische Substanz, wenn der Kunde nicht mehr kommt.
Die Straße der leeren Läden
Auf eine Kaufhausruine folgt eine ehemalige Gärtnerei, ein Friseur und beiderseits der Straße weitere, aufgelassene Gewerbe. Es ist das Lied eines Kulturwandels der Städte von zehntausend oder weniger Einwohnern. Man bedauert ihn , nachdem man ihn selbst vollzogen hat.
Der Trödler weiter unten sammelt, stapelt und vertickt die Reste in einer jahrhundertealten Scheune. Er schließt gerade.
Das Zentrum von Beerfelden ist der ReweMarkt unten im Tal. Dort versammelt sich die kleine Gruppe aus Frankfurt und hält Rast. Im Markt herrscht ein stetes Kommen und Gehen, es ist ein Samstag. Wir sind gut beeinander, „die Gruppe funktioniert“, keiner wirkt überfordert, angstrengend, ja, aber so zufrieden mit dem ersten 200er des Jahres. Man weiß hier schon: es hat sich gelohnt.
Eine umgewidmete Tankstelle verabschiedet uns aus der Stadt, eine weitere folgt, dann ist es vorbei.
Wirtshäuser im Wald
Wir tauchen wieder in die Wälder ein, gerade sind die 100 Kilometer erreicht. Wieder ist es eine breite, gute Landstraße hinauf in den Wald, mit 4 bis 6 % lässt es sich gut steigen und reden, ganz wie zuvor. Paarweise in unserem Tempo. Der K. erinnert an sein Geburtsjahr, an dem „All Blues“ erschien, ein Meilenstein im Jazz. Wenig Verkehr, nur ein einsamer Traktor mit seiner Holzladung überholt uns im Tempo von Profirennfahrern. Noch einige Minuten klingt es in den Tannen nach. Der Odenwald: eine lange Folge von sanften Tälern und Höhenzügen und weit weniger dezimierte Nadelbäume als anderswo.
An einer riesigen Eiche steht ein Wirtshaus. Es wirkt echt. Daneben Holzstapel, daneben das Enik vom K, Umbauarbeiten und Saisonpause. Die Coronahilfen genutzt – hoffentlich.
Langsam setzt leichter Regen ein. Die Passagen erinnern an Schwarzwaldpostkarten aus großer Zeit. Ab und zu riecht es auch nach Holzfeuern. Eigentlich könnten Menschen hier wunderbar ihre Ferien verbringen, vorausgesetzt sie lieben Wälder, Landschaften und gute Luft. Vorausgesetzt, die Wirtshäuser öffnen und werfen den Herd an. Im Sommer des Klimawandels wird es noch angenehmer sein und man wird Scharen von Fliegern über den Tannen bewundern, die verzweifelt nach dem Paradies suchen.
Freddie Freeloader
Jetzt: eindrucksvoll der sehr gerade, lange Höhenweg mitten über einen Bergrücken, mitten durch die Tannen, die den aufkommenden Regen dämpfen. Dann irgendwann wieder ins Freie, Richtung Nordwest. Wir sind auf einer Hochebene gelandet, Rotoren zu sehen, ein sicheres Zeichen für den Höhenzug. Mit gutem Wind über die Ackerdörfer. Je näher die Städte, desto breiter die Straßen. Lange Versorgungsstrecken, Arbeitsstrecken, Auswandererstrecken, jetzt Radweg für uns in langer Reihe.
Man begegnet uns mit Rücksicht, wer im Auto sitzt, schaudert vermutlich bei dem Gedanken, mit einem Radfahrer zu tauschen. Im Dunst der Hochebene noch ein wenig lokale Industrie, Parkplätze gefüllt. Sie kommen uns entgegen, das Samstagrodeo im Rheintal ist beendet.
Rückwinde
Bei einbrechender Dunkelheit verlassen wir den Odenwald nahe Klein – Umstadt, halten uns an den Lenkern fest, denn der Südwest bläst hier mächtig an. Die Rotoren haben mehr als genug zu tun, wir lehnen uns wie Segler dagegen und versuchen, Kurs zu halten. Ganz hinten und ganz im Blau verschwommen (sehr schwach) die Lichter der großen Türme von Frankfurt.
Unten im Tal wird der Südwest unser Freund. Mit frischen Handschuhen machen wir locker Höchstgeschwindigkeit, 50×13 kann ich sonst nur bergab treten. Wir fliegen vorbei an der Opel Teststrecke und rätseln, wozu sie in Zukunft gut sein wird. Wie überhaupt. Glänzende Straßen, wir rollen zufrieden dahin.
Dann kommt die Nacht. Mitfahrer ziehen heim, sie zweigen hier und da in die Vororte der EZB Stadt ab; zu Dritt erreichen wir den Südbahnhof, dahinter noch die scharfe Currywurst eines sehr anständigen Imbiß. Sie gibt genug Wärme und Körner für die Heimreise.
ein letztes mal zieh ich die maske an – hoffentlich für immer. Dem O sei Dank für den Odenwald.