Das Notlaufprogramm – Gießen 200

a06„Ist er schon im Notlaufprogramm“ ? Eingerahmt von zwei Berner Sennehunden sitzt Ben von Ben’s Oldtimerservice hinter seinem Schreibtisch. Die  Anzeige „Einspritzung prüfen“ hatte mich beunruhigt. Woran merkt man ein Notlaufprogramm ?  „Das Auto fährt nur noch 50, 60km/h.“ Nein, brummte nur etwas lauter. „Ich kümmer mich drum.“  Es ist gut, wenn der Werkstattchef das gleiche Auto fährt, weil er damit Berner Sennehunde chauffieren will. Ohne Notlaufprogramm  kann ich darum am nächsten Tag mein bronzenes Koga Gents-Tourer zum Gießener 200 transportieren.

a 00Der Gießener 200 hat inzwischen drei Streckenvarianten und die neueste steht heute am 25 März 2023 an. Es sind 2300 Meter an Anstiegen zu bewältigen, die sich rund um Gießen mittelgebirgig verteilen.

Thus quoth the Raven

ac91Zehn Stunden später: Hohensolms, nur noch diesen, letzten, allerletzten Anstieg; der Abendhimmel hat rosige und graue, phantastische  Wolkenberge gemalt, das letzte Himmelsblau dunkelt nach und in der Dämmerung erkenne ich gleich neben mir einen massiven Kolkraben auf der Wiese.  Kolkraben sind definitiv keine Vegetarier und dieses Reh muß wirklich gut schmecken, denn er lässt sich kaum von meinen Rufen beeindrucken.

Erst als ich wende, um ihn näher zu Gesicht zu bekommen, macht er sich unwillig stelzend davon. Wenn ich es schon kaum mehr schaffe, die Kamera zu ziehen, sollte ich mich besser auf die letzten 25km konzentrieren, um nicht als Osterschmaus dieses klugen Tieres in der Wiese  zu landen. . . . . .

a 01175 km zuvor ahnte vor der Bäckerei Künkel keiner der 80 Starter (bei 110 Meldungen) , was sie erwarten würde. Nun gut, der ein oder andere Schauer. Aber es war angenehm, fast zweistellig warm und die Vorfreude auf die Landschaften spiegelte sich in der Stimmung an den Frühstückstischen.

a02Kurze Ansprache und ab 8h30 ging es in 5min Abständen los.

Ein freundlicher Wind drückt uns aus Gießen ostwärts, die bekannte Straße Richtung Grünberg muß niemand mehr auf dem Navi suchen. Mit  M&M (ein Avatar für zwei Freunde aus der Frankfurter Selbsthilfegruppe) beginnt die Fahrt. Die speedgravelreifen neben mir singen bei knapp 40kmh ein helles Lied.

a2Ein einzelnes Velomobil zieht seine Spur : wind – und -wasserdicht.

a3An den ersten Steigungen zieht es das Feld in die Länge, die Leuchtpunkte verteilen sich über noch kahle Waldstücke. Man strampelt sich warm, findet in ersten Gruppen zusammen.

Oben zeigen die Rotoren nach West: da kommt der Wind her. Falte um Falte ostwärts, ein Knie zwickt, ich ändere die Fußhaltung, jetzt nicht überziehen. Alle Parameter stimmen.

a05Dann endet der Hochwald und gibt den Blick auf das Amöneburger Becken frei. Hinten der kleine Vulkankegel, davor Schweinsberg. Eine rasante Abfahrt, eine Schnellkontrolle an der Kirche. Bald 40 Kilometer, die Homberger Falte wird überwunden.

Der Frühling macht ernst

a4Die Sonne bricht  kurz durch und bringt die ersten Schlehen im Ohmtal zur Geltung.

a7Dahinter aber wartet eine dunkle Wand . Es ist ein ungleicher Kampf, auch wenn der Wind uns schiebt, werden wir ihnen nicht entkommen den hochschwangeren Wolken. Quer unter der umstrittenen A45 hindurch steigt der Weg weiter an, das schöne Bachtal wird bald verlassen, Fachwerkdörfer ruhen in sich.

a8es geht ganz allmählich Richtung Vogelsberg. Dort, in der kleinen Stadt Ulrichstein liegt die erste Kontrolle. Der Höchste Punkt der Strecke bei 550Metern ist auch Wendepunkt. Über 80 Kilometer anschließend nach Westen, aber davon wird noch zu sprechen sein.

Überraschungen  am Weg

a9Einige Mitfahrer haben kurz gehalten, um ihr Regenzeug auszupacken. Dieser Schirm bleibt die absolute Ausnahme. Sicher ist nur: aus dem leichten Nieseln wird allmählich ein handfester Regen.

Die geschmeidigen Lederhandschuhe packe ich unter die dicke Pelle, einmal durchnäßt nutzen sie mir nicht mehr.  Plötzlich kann ich meinen Atem sehen, die Temperatur fällt mit jedem Höhenmeter. Wir haben kurz die Bundesstraße Grünberg – Alsfeld gekreuzt und machen uns in den nächsten Anstieg.

ab1Noch 10 Kilometer bis Ulrichstein, und es kommt dicke. Der Wind bläst in Böen von der Seite immer neue Gischt, wir suchen die noch halbwegs trockene Spur auf der schönen Landstraße. Dann zerreißt ein Blitz die graue Wand über dem sanften Tal und sehr schnell folgt krachend der Donner. Beim nächsten Blitz habe ich kaum Zeit, bis zwei zu zählen.

Wieder eine Bö und diesmal mischen sich weiße Hagelkörner darunter, die unsere Gesichter von rechts einpeitschen. Ich ziehe meinen Schlauchschal höher und ducke mich über den Lenker. Ein Traktor mit fettem Anhänger voller Heu  überholt und gibt ganz kurz willkommenen, duftenden Windschatten. Diese Strecke könnte sehr schön sein. Es blitzt rundum, schweigend arbeiten wir uns die sanfte Steigung hinauf. Noch 4 km. Jeder hält jetzt das Tempo hoch, um nicht völlig durchweicht zu werden.

ab2Der Hagel legt eine knuspernde Schicht Glasur unter den Reifen, eine Gelee durch die wir pflügen; bei Ulrichstein geht er in Schnee über.

ab3Ein kleines Schild weist zur Kontrolle Vulkanbäcker, Räder scharen sich dicht um den Eingang.  11h10 in Ulrichstein, der Winter schlägt ein letztes mal zurück.

Der Vorraum ist zum Refugium geworden, Radfahrer bilden die große Mehrzahl der heutigen Kunden. Mit dem Kaufbeleg für eine Mandarinenschecke mache ich mich 5 Minuten später auf: ein Cappuccino wartet unweit in einem festen, warmen Gebäude. In Ulrichstein wohnen die unglaublichsten Leute. Sammler alter Rennräder beispielsweise. Sie heißen mich kurz am Ofen willkommen. 20 Minuten später verlasse ich meinen Freund den Sammler und Café-gourmet. Die Sonne ist durchgebrochen.

ab4Mit einem kleinen Trupp, den ich kurz bei km 30 sah, beginnt die Ausfahrt aus der höchsten Stadt Hessens, vorbei an der Kulisse des Bücherladens, der bei besserem Wetter einem Film als Muster authentischen Dorflebens diente.

Was man von hier aus sehen kann?

ab5Der Blick geht endlos weit über einen völlig freigeblasenen Himmel, weit hinter Gießen sieht man den Telekommunikationsmasten auf dem Dünsberg, an der wir bei km 190 vorbeikommen. . . Futur 2.

Etwas tiefer liegen die kleinen Dörfer und die  Talfalten auf dem Weg nach Westen. Was man nicht sehen kann, ist der Wind. Bergab fällt er kaum auf und auch die ersten steilen Hügel liegen in seinem Schatten. Zum ersten mal greife ich auf mein drittes, kleines Blatt.

ab51Kilometer um Kilometer geht es wogend auf und ab, hin und wieder sammle ich einen Mitfahrer auf, den ich lange vor der Pause sah. M&M sollten irgendwo weit vor mir sein.

Der nächste Kontrollpunkt, Rockenberg, ist es auch. Der Effekt des doppelten Cappucinos ist allmählich dahin und auch eine Banane plus Cremeschnitte hält nicht allzulang vor; noch einen Riegel und trinken, denn jetzt heißt es in der Ebene drücken, drücken, drücken. Der Wind kommt genau von vorn, nur kurz vermindern Waldpartien die Durchschlagskraft. Wieder Fahrer in Sicht.

Wind1

ab61Bei Laubach (hübsch, Fachwerk, Pflasterstein) weiß niemand, wie weit Rockenberg entfernt ist. 20? 30? Der Fluch der Landstraße senkt sich über uns,  immer weiter auf dem Damm.  Kurz noch ein Hinterrad, dann wieder allein. Die Sonne ist kein großer Trost mehr. Danke, ich bin wieder trockengeblasen, die Lederhandschuhe schützen mich, aber mein Körnerrechner macht Probleme. Stechende Kopfschmerzen, dabei sitzt der Helm perfekt.

Wind 2

Da erkenne ich das herbstorange leuchtende Trikot von M&M, keine 100 meter vor mir. Wie von Zauberhand plötzlich da. Aber der Zauber des Windes ist ein Fluch. Ich komme mal auf 70, mal auf 50 Meter heran, an den Baken kann man es erkennen. Ich versuche es über 5 lange Minuten und weiß doch: nichts  zu machen.  Die ganze Mühe hätte ich mir sparen können: in Lich (hübsch, Fachwerk, Pflasterstein) treffen wir an der erstbesten Ampel aufeinander.

ab6Ich genieße meine Ferien im Rücken der beiden Großen, aber ich muß nah am Hinterrad bleiben, sonst hilft es nicht. Jeder kleine Knick des Radwegs ist eine Qual, die Autbahnbrücke vor Münzenberg eine einzige Pein: mein linker Oberschenkel zuckt und sticht. Ich kann ihn wiegend besänftigen.

Im Anstieg durch Münzenberg hat sich alles beruhigt.Warnzeichen. Wo bleibt die Kontrolle?

ab8Weit vor uns die Krone des Feldbergs, freigepeitscht vom Wind, der jeden über den Lenker zwingt. Die Galeere rudert im steten Takt. Ich trinke,  aber der komische, bittere Geschmack im Mund will nicht gehen. Ich trinke nochmal, ich sauge. Da ist dieses winklige Rockenberg.

Der Fluch des Edeka

ab81Dieser schnöde Edeka soll die Erlösung bringen. Km 106! Keine Distanz. Ich stelle das Koga in den Windschatten,  es wird sonst fortgeblasen. 13 Uhr irgendwas, ich knalle die feuchte Brevetkarte einfach aufs Kassenband und durchstreife den alten, ranzigen Edeka neukauf (haha!) nach Beute. Irgendwo, ganz hinten unter dem niedrigen Dach stapeln sich die Sprudelkästen. Der Laden ist nicht gerade nach den neuesten erkenntnissen der Kundenführung gestaltet. Es gibt wenig Frisches oder ich finde es nicht.

Ein Königreich für ein gutes ChickenSandwich, besser noch Lachs und dann ein Körnerbrot mit Käse und frischem Salat. Stattdesssen nur diese erbärmliche Nougatrieglscheiße die ich draußen kaum aus der Plastikpelle ziehen kann. Dieser Edeka Neukauf ist ein Modell für die Verachtung, mit der dieser Laden die Bewohner von Rockenberg, Bellersbach, Obernhofen, Ober- Hörgern und alle anderen in ihrem Dasein abstraft, deren ärmlicher Horizont nicht übers Gambacher Autobahnkreuz reicht. Denn es gibt hier von allem nur das Allerschlechteste. Jeder Aral Tankstellenshop hat eine menschenwürdigere Auswahl.  Jede dreimal abgeschriebene  Pachtbude an einem räudigen Campingplatz. Dann eben wieder Trockenobst  aus der Hecktasche und die Literflasche Rosbacher leeren,  und das war der nächste Fehler. In Gerolsteiner Medium sind eindeutig mehr Mineralien,  ich  sollte es besser wissen. Aber das interessiert den Mann nicht, der draußen den Einkaufswagen mit Abfallflaschen  aus dem überquellenden Mülleimer füllt, deren Pfand er gleich einlösen wird……

Draußen scheint die Sonne, ich will von hier fort, während M&M klugerweise in aller Ruhe weiterpicknicken, wie können sie es nur eine Minute hier aushalten? und wieder ein Fehler: Allein aus Rockenberg hinaus, in voller Sonne, bei allerblauestem Himmel mit stechendem Kopfschmerz, bergan und auf einen ungewissen Horizont zu. Das weiß ich aber jetzt erst, wo es definitiv zu spät ist, umzukehren.

Wind 3

ab82Denn mittlerweile bläste der Wind mit Beauf 7 über die baumlosen, aber fruchtbaren Wellen des Butzbacher Landes.  Erst dieses Gestrüpp über der Autobahn erlöst kurz von der Folter. Verloren kriecht ein radfahrender Punkt nach dem nächsten über die Felder,  man kann es wunderbar erkennen, während sich in der Ferne dieses Butzbach abzeichnet, in dem Menschen immerhin würdiges Essen vorfinden. Vermutlich gibt es dort sogar in der Sicherungsverwahrung besseres Essen als in diesem infamen Rockenberger Gelaß.

Und es folgt die nächste Strafe.

Eigentlich ist es ein schöner Ansteig,der unter dem Heidelbeerberg hinauf nach Espa führt. Kaum 100 Höhenmeter auf 3 Kilometer verteilt, zum großen Teil durch den Wald, der endlich dem Feind den Weg versperrt. Im steten Takt kämpfe ich mit dem Anstieg, vor allem aber dem widerlichen Klumpen in meinem Magen, dieses Amalgam schlechter Kalorien, völlig übersättigter Fettsäuren, toter Vitamine und Invertzuckermasse. Meine Fingerspitzen verlieren Gefühl, dabei trage ich Handschuhe. Immer tiefer rutsche ich in den Spalt der Ohnmacht. Zum Glück überholt mich niemand. Wenn ich erbrechen könnte, ginge es mir besser. In Espa ist es geschafft, die Freude der Abfahrt wartet.

Plötzlich ruft es neben mir: komm mit! Es sind drei Mitfahrer von weither bekannt und eigentlich sollte ich mein Glück nicht fassen können. Gegen den Talwind im Windschatten bergab, jetzt kommen zehn goldene Minuten, in denen ich endlich wieder aus der Spalte herauskrieche, in die ich gerade rutsche, dem schwarzen Loch des Radfahrers.

Doch die Oberschenkel. Durch beide gleichzeitig zieht ein Stechen, das keinen Wiederspruch duldet. der kurze Wiegetritt kann sie nicht beschwichtigen, ein anderer Gang vertreibt sie nicht,  es ist nichts zu machen  – der Windschatten zieht davon, davon, davon.  Du und Dein Rad. Allein.

Das Notlaufprogramm

In der Talsohle habe ich die Krämpfe besiegt, wenigstens vorläufig. Aber es ist das Notlaufprogramm, wie mir Ben (von Ben’s Oldtimerservice) versichert, dessen Kennerblick ich über meinen Motor gebeugt sehe.  Von den Dreien vor mir ist ebenfalls einer abgeplatzt, ich nehme ihn als rote Boje wahr, die mir halt zwischen den Leitplanken gibt.

ac93Plötzlich treffen wir Christian Schulz , der seine alte Digicam umherschwenkt. Offenbar sieht man mir mein Leid nicht an, sonst hätte er den Hubschrauber gerufen. Weiter zum Braunfelser Anstieg, den ich jetzt mehr hasse als Kopfschmerzen und den  bitteren Geschmack im Mund,  den gleich kehren die Krämpfe zurück, das steht fest. Und so fahre ich ihn mit der einzigen Methode hinauf, die mir bleibt hinauf: dicker Gang, Wiegetritt, im Stehen aufwärts.

a braunfelsGeschafft: hier der Beweis, eine schnöde Parkuhr bei km 140, eine Handvoll Fahrer, die sich  alsbald wieder zerstreut. Nun bergab, nächste Chance zur Erholung. Das alles sind nur 20 Kilometer in einem kleinen 200er Brevet gewesen,  aber Zeit wird eine völlig elastische Größe , manchmal scheint ein Kilometer ein Lichtjahr zu sein. Lord, bring me my Mojo back!

Der Lord hat aber noch zwei kapitale Prüfungen auf den letzten 60km im Gepäck. Der Anstieg nach Ehringshausen und der Anstieg hinter Sinn, der große Unbekannte. 60 km, das ist nichts!

ab72Ich könnte auch die vielen Blumen, den Sternanis,Schlehen, die ersten Tulpenbäume bewundern. Die schönen kleinen Gärten am Wegesrand mit ihren leuchtenden narzissen. Stattdessen muß mein Geist unentwegt über den Gang nachdenken, mit dem jetzt der kleine Pass bezwungen wird. Hier schon auf das 28er wechseln? Nein, besser nicht. Ohne Krampf ist es nur noch eine Kopfsache. Oder eine Bauchsache. Nur noch ein, zwei Serpentinen. Oben eine ganze Gruppe, fast zum greifen nah. Eben waren sie an mir vorbeigezogen, darunter auch die, die mich noch in Espa mitziehen wollten. Ein Lichtjahr ist das her und ich arbeite mich weiter aus dem schwarzen Loch heraus. Denn so will es das Gesetz – hinter dem schwarzen Loch gelten die physikalischen Gesetze von Zeit und Raum wieder.

Da steht ein Fahrer mit blauem Canyon in der Kurve und steigt auf. Es geht ihm gerade schlecht – dabei war er mit Tempo neben mir nach Ulrichstein hochgezogen. Aber das war in einem anderen Leben, vor 90 Kilometern. Es ist sein erstes Brevet und er braucht eine Gruppe, an der er sich ohne Navi orientieren kann. Zusammen leiden wir aufwärts-  für ein erstes Brevet hat er sich eins der härteren ausgesucht.

ac2Gemeinsam   ins vorvorletzte Tal einrollen: die Dill, ein rauschender, sehr breiter Bach, an dem sich die einst stolze B277 entlangzog, bevor die Autobahn fast alle Tankstellen und viele Bäckereien überflüssig machte.

Der leise Tod an der Dill

ac1Ich kenne den Weg, fast bin ich hier zuhause, aber noch bin ich mir selbst ein Unbekannter. Die nächste graue Wand baut sich vor mir auf und über dem Schloß Greifenstein ziehen dichte Schleier hinab. Und immer noch Notlaufprogramm, auch wenn die Hände wieder zu spüren sind. Ein Schauer kommt näher.

ac3Fünf Minuten später stehe ich in einem Netto an der Landstraße, während der Regen die großen Panoramascheiben zerfließen läßt. Ein schöner moderner Netto und der alte Volvo fügt sich wunderbar ins Bild der aufgeklärten Konsumenten, die mehrheitlich Alkoholika für den gelungenen Samstagabend hinausschieben.  Ich kann ihre Körper riechen, während sie an mir vorbeigleiten. Das gehört zum Notlaufprogramm, wenn auf einmal alles riecht, was man sonst überriecht. Auf hundert, zweihundert Meter rieche ich draußen, ob das Fett im Edelrestaurant Regenerierfett Marke „Kippschmelz“  ist oder Frischware. Gastronomie ist eine einzige Betrugsmaschine für Übersättigte.

Fünf Sorten Olivenöl, mehrere Keimöle führt dieser Netto: sie geben sich alle Mühe,  aber gegen die Preissenkung bei RedBull-Imitaten ist kein Kraut gewachsen. In meinem Gaumen prickelt der Bio Kefir und spült das Salz der Erdnüsse hinunter. Von den vier Flaschen waren drei um 30% im Preis gesenkt, dieser Notkauf wird das hervorragende Produkt vor der Auslistung bewahren. Noch ein Apfel und raus, der Schauer ist durch

ab83Mal sehen, ob ich jetzt genug Benzin im Tank habe.

Sinn!

ac4

Hinter dieser Ecke kommt er, der Sinn dieser Fahrt. Hier, im Ort gleichen namens beginnt die definitive, ultimative Herausforderung des Brevets, wenn die Messe fast schon gelesen ist bei km 160 und alles nur noch auf das Läuten der Zielglocke wartet.

a rincker1

Und zufällig beginnt diese Prüfung gleich neben der alten Glockengießerei Rincker. Anders als die benachbarte Firma Doering https://www.industriekultur-lahn-dill.de/eisengiesserei-doering, die seit November 22 definitiv Pleite ist (anders als für Karstadt finanziert man kein Insolvenzgeld), überlebt Rincker dank der Spezialisierung auf Glocken und andere Kunstgüsse, wie Statuen von Elvis und Gerd Müller…eine Figur des anonymen Randonneurs fehlt noch.

Ganz diskret geht es nun rechts hinter  Werksgebäuden hinauf in den Hang. Der Hang ist mit alten Werkswohnungen eines Einheitstyps bebaut, die  Zeugnis der bei Doering beschäftigten Ostvertriebenen ablegen. Schleichend verlasse ich den kleinen, leise sterbenden Industriestandort.ac5

Denn hinter Sinn kommt die alpinistische Sahnehaube der Tour, ein schnurgerader Anstieg von hundert Höhenmetern, den ich vorsichtig auf 13 % schätze. Genau dafür habe ich das Rad mit dem kleinen 28er gewählt.

Doch es gibt zwei Zeichen: das eine sind andere Radfahrer in lächerlich geringer Geschwindigkeit (       einen sehe ich schieben).

ac6Und über allem dieser Regenbogen, der wirklich geradewegs aus der Bergkuppe emporzustrahlen scheint. Der fetteste, klarste Regenbogen, an den ich mich erinnern kann taucht alles in ein erlösendes Licht. Ich fahre ihm entgegen, ich steige nicht ab, ich drehe gleichmäßig und stetig meiner Auferstehung entgegen. Es gelingt.

Noch bin ich nicht erlöst, aber einen Schritt weiter, als ich zu den anderen an der letzten Kontrolle aufschließe. Km 171 Da stehen auch M&M und sagen, ihnen sei kalt geworden ist in der Abfahrt. Jetzt ziehe ich die Not – Cola, aus der Total Energies Bude. Die übrigen Frankfurter stehen auch dort und wir reden kurz über die interessante Erfahrung, die allen in den Knochen steckt. Ich ziehe weiter, brauche jetzt nichts mehr außer mein Mojo.

ac7Hier ist das Aartal, die Holzstapel dampfen erwartungsvoll vor iherer Zerkleinerung. Sie riechen großartig. Der Rabe am Hohensolms kann kommen,

bring me my mojo back

Einmal noch zuckt es ganz kurz und allmählich löst sich der Klumpen im Bauch auf, die Beine kurbeln kraftlos, aber ohne Schmerz. Noch widert mich der Dunst des Restaurant am Aarsee an, doch ganz, ganz langsam kommt mein Mojo wieder. Die nächste Steigung ist fast mein Freund. Der Rabe ist mein Freund: heute frißt er mich nicht. Der blassgelbe Renault Espace in historischer Ausführung ist mein Freund und dann überholen mich M&M auf dem letzten Anstieg zum Hohensolms. Ich sehe sehnsüchtig ihren Rücklichtern nach – 2 Minuten auf einen Kilometer, mein Mojo muß noch an sich arbeiten.

ac91Mit dem Dünsberg und seinem Telekomturm grüße ich das letzte Tageslicht, von hier geht es immer weiter hinunter nach Gießen, in einer letzten Gerade durch Heuchelheim und da macht es auch nichts mehr, daß mit trockenem Pling hinten eine Speiche reißt. Ich öffne die bremse in der Fahrt und rolle unbeirrt

ad01Einen Preis zahlst Du immer.

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Eine Antwort zu Das Notlaufprogramm – Gießen 200

  1. randonneurdidier schreibt:

    Grandios! Wunderbar hast Du bechrieben, wie Randonnieren sein kann, wie es quälen kann, masochistisch anmuten kann. Trotzdem lustvoll. Herrlich zu lesen, mit zu leiden, zu erleben Danke dafür. Chapeau👏👏👏🙋‍♂️

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