Mein Deutschlandmärchen Maastricht 200 – Februar 2024

am03Der Maastricht 200 ist ein Fixstern, die Ouvertüre der Saison. Nicht nur der erste Brevet, sondern eine immer neue Begegnung mit alten Jagdgründen.. Die Suche nach der alten Fährte, denn Du vergisst nie die ersten langen Strecken Deines Lebens. In diesem Jahr wie in jedem: 100 Kilometer mit dem Wind, 100 km dagegen, je nach Laune der Natur. Südpol ist  Maastricht, der Nordpol Venlo.

am82Die Fabel der eigenen Wege wird weitergesponnen, diesmal kommt eine andere Fabel dazu: mein Deutschlandmärchen. Der Lebensbericht eines Gabelstaplerfahrers, der Dichter ist, die poetisch angereicherte Biographie eines Türken, der in Deutschland geboren wird, zufällig gerade hier aufwächst und zum Dichter wird  – weil es anders nicht geht, ein Deutschlandmärchen zu schreiben.

Das Buch https://www.perlentaucher.de/buch/dincer-guecyeter/unser-deutschlandmaerchen.html von Dincer Gücyeter war das, was man einen Erfolg der Kritik nennt. Es gab Interviews, Lesungen, Preise: eine Öffentlichkeit für ein wichtiges Stück Vergangenheit, eine Vergangenheit, die unsere Gegenwart und Zukunft ist: wir erkennen es gerade;  Dincer (und seine Brüder und Schwestern) begleiten uns .

am01Aber jetzt nieselt es in Maastricht, die Dachrinne des stayokay Hostels bietet kaum Schutz für die 80 aufgereihten Sättel und nur meine kleine Hecktasche wird mich vor Nässe schützen –  auf den Kilometern zur Stadt hinaus. Die Stimmung im Vorraum der Herberge ist beinahe familiär, der Kaffee tut gut, auf dem schönen großen Holztisch liegen die gelben Brevetkarten, der Stapel wird schnell kleiner. 9h ist Abfahrt.

am3Gemeinsam ziehen wir zur morgendlich ruhenden Stadt hinaus. Nach der Altstadt kommt ein Ring moderner Urbanbauten, gerade macht der Kiosk auf. Die Gruppen ziehn sich an jeder Ampel in die Länge, weiter und weiter auseinander. Dann schon die erste Rampe ostwärts aus dem Maastal, alles zerstreut sich in die zart aufgrünende Landschaft, deren Bewohner allmählich in den Samstag aufbrechen.

am4Dann ist der Himmel aufgerissen, gerade als es in die liebliche Ecke Limburgs geht. Wir nehmen erst eine, dann zwei und noch eine lange dritte Steigung – uns wird nicht kalt. Kurz vor dem Dreiländerpunkt, der höchsten Stelle Hollands geht es im Wald wieder links ab.

am lutoDie Musik, die mich in Fragmenten während dieser Fahrt begleitet, ist das  Klavierkonzert von Witold Lutoslawski (1987). Ein Komplexes, vielschichtiges Werk, das ich seit einer Woche zu durchdringen versuche. Es hat neben kurzen, expressiven Fragmenten, tiefe, romantische und stark rhythmische Momente. Immer wieder fliegen  Melodiestücke – in der Musik des 20ten finden sich weniger Melodiebögen – zu. Kleine Partikel und große Akkorde. Flüchtig wie Wolken, die der Wind vor uns hertreibt. Flüchtig wie die bunten Punkte der Radfahrer, die durch den Samstagmorgen bergab fliegen, bergauf kriechen.

am5Schon ist die letzte Kuppe des Mergellands überwunden und da reichen wir die gelbe Karte zum Stempel an einer improviserten Kontrolle: eine sogenannte Geheimkontrolle. Weiter durch die Siedlungen des Aachener Beckens. Unter Aufwerfungen der ErdKruste fand sich der Schatz, der Häuser und Städte wachsen liess. Kohle.

am7Längst vorbei die Ära der Kohle, nur die Häuserguppen verraten noch die alte Industrie. Ob in Wales, der Borinage oder der Ruhr, über all gibt es die kleinen roten Häuserzeilen. Viele Dincer lebten auch hier, genau wie gleich drüben in Deutschland – in den Zechen, den Werkstätten, auf den Feldern. Jetzt sind sie ein halbes Jahrhundert alt.

am12In der Partitur des Orchesters sind Stellen die ad libitum notiert sind . Bei jeder Aufführung verändern sie sich, dauern länger oder kürzer. Es ist also jedesmal wie Landschaft und Wetter, die sich verändern. Der Klavierteil dagegen ist ganz klassisch notiert. So auch hier. Mein Teil ist gleich, die Gänge, die Partitur (das ist die Strecke), ändert sich nicht. Das Wetter ändert sich, der Himmel und der Wind ändern sich, geben das Tempo vor. Ich spiele meinen Teil. Dann geht meinem Klavier die Luft aus.

am02Nur zehn Minuten und es geht gut, das Schaltwerk gibt das Rad schnell  frei, auf der eisernen Bank, die Bremse offen und tauschen. Sie ziehen vorbei und ich mache ein like in ihre Richtung. An der ersten Kontrolle sind wir wieder beisammen. Km 61 – Mit einer Nussecke über die Äcker davon

am04Auf die Windräder zu, Wind von schräg links, jetzt gut, später wird er gnadenlos sein. Am Horizont eine Linie, der Rurgraben, die letzte kleine Falte, meine alte Heimat mit ihrer eigenen Kohlehalde, lange her. Keine Türme mehr, aber noch immer die riesisge halde, wir fahren über die Skelette gigantischer Wälder, die Fossilien türmen sich am Rand. Der Sand einer Baustelle hat das Rad völlig eingesaut, warum fahre ich nur mit dem track des letzten Jahres?

Der Komponist der Fahrt hat die Partitur umgeschrieben und ich habe es ignoriert. An der Tankstelle einen halbe Kanne Wasser drüber, es knirscht nicht  mehr.  Wieder die kleine roten Backsteinhäuser. Mein Deutschlandmärchen rückt näher und näher.

am11Erst salutieren: der streunende Mann mit dem großen Fotoapparat bewegt sich mitten auf dem alten Pershing Gelände. Eine ultra-geheime Stellung, in den  Bunkern lagen die Raketen und die Lafetten, die Container, von denen aus  die Raketen ausgerichtet wurden, 600km Reichweite – also Polen,  Tschechien, Baltikum, oder eben: DDR . Die atomaren Sprengköpfe lagen in anderen Bunkern, nicht weit von Controlpoint 1. Natürlich sind sie alle weg.  Jetzt rostet die Stellung vor sich hin und die neue Tourismus Route hakt den Aussenposten des kalten Krieges ab.

am22Der Wind steht gut ich, mache Meilen, das Märchen von Dincer Gücyeter rückt näher. Es spielt in einer ganz unscheinbaren Gegend, nördlich von Brüggen. Bracht und Breyell  – Nettetal.  Wer nicht daran interessiert ist , kann unter dem BurgerKing bild weiterlesen.

am13Hier ist das Ortssschild und hier sind die Felder. Dincer, das ist ein junger Türke, ungefähr mein Jahrgang. Irgendwo hinter der nächsten Ecke wächst er mit seinen Eltern auf. Als der Vater vom Herzinfarkt niedergestreckt wird, steigt Dincer, 9 Jahre alt, heimlich mit in den Bus, der die Frauen zur Erntearbeit auf die Felder führt, seinen beitrag leisten, um nicht in Armut zu versinken. Von da an wird er Porree und Gurken ernten, sich in die Armee der Tagelöhner einreihen, mitten im Wohlstandsland wo das Geld auf den bäumen wächst. Später die Schlosserlehre in der Fabrik. Wohlstand für alle.

am81Genau hier hilft er den Bauern auf den Feldern aus. Seine Mutter ist Erntehelferin, nur nebenbei, denn es ist nötig, um gegen die Schulden zu kämpfen, die der Vater überall gemacht hat. Im Deutschlandmärchen zählen die Frauen, die Dincer erziehen. Seine Mutter, die von ihrer Familie in eine Fernheirat vermittelt wird und ihr Ticket nach Deutschland löst, seine Tanten, der abwesende Vater, seine gescheiterten Geschäftsideen und die Kneipe, die nur leidlich läuft. Während die Mutter in der Fabrik Akkord arbeitet, leiht er sich für neue Unternehmungen Geld, ihre Gäste leihen sich Geld, lassen anschreiben, der Kreis, aus dem Du nicht herauskommst. In der Türkei, wo die Großmutter als Witwe verstossen wurd auf dem nackten Boden schlief und mit ihren Mädchen hungerte. Wo die Großmutter der Tochter befahl, den da (Foto) zu heiraten : jetzt sind sie ganz unten auf der Leiter BRD) Leute, die es geschafft haben. Das Geld in Almanya wächst auf den Bäumen.

Leicht burlesk komödiantisch könnte man die Serie „Türkisch für Anfänger“ (ZDF 05) noch vergleichen, aber hier im westlichen Zonenrandgebiet von Nettetal gibt es keine Komödie, nur Zärtlichkeit und Kampf .

am9Es sieht immer noch nicht so aus, als hätten alle gewonnen.

Almanya, das waren die ersten hundert Kilometer und kurz vor der Grenze ist Rast.  Es ist weniger los als genau vor einem Jahr, dabei ist es genau dieser Samstag vor einem Jahr. Vielleicht ist die Differenz der Spritpreise nicht mehr hoch genug? Es sind auch keine Autos am Drive In und als ich durch das Schiebefenster sehe, ist kaum Personal da. An einem Samstag um 13h30, Ende Februar

Einmal King des Monats – ich bin ganz ordentlich vorwärtsgekommen. Km 111. Der Preis gleich, die Fleischportion ist geschrumpft . Ich dehne und trinke und esse. ein Radler zieht vorbei – schnell hinterher.

an1In Venlo irre ich umher und stoppe am großen Kreisverkehr Ich mache ein Belegbild mit Armbanduhr. So ist es, wenn man die neue Partitur nicht dabei hat, der Controlpoint 2 ist irgendwo in einem Gasthaus, das ich nicht kenne. Jedenfalls  liegt es nicht an der alten Route. Sehr dumm. Müßig weiter zu irren oder jemand zu fragen: dabei hatte ich oben noch ein Radtrikot um die Ecke biegen sehen. Verschwunden  – und jetzt stehe ich hier und sehe den Tesla Ladungen zu, wie sie über die Maas verschwinden. Hinterher.

an2Und dann fiel ich ab. Ich hätte nicht nur innen, sondern den Mantel auch aussen abtasten sollen. So hat sich ein kleiner Splitstein ganz langsam weiter durch gearbeitet und ein winziges Loch gebohrt. Ein einzelner, blöder kleiner Split. Im Windschutz sorgfälitg getrimmter Buchshecke ziehe ich meinen letzten Schlauch: danach wird nur noch  Flicken helfen – aber es darf kein danach geben, ich will mit Sonnenuntergang in Maastricht sein.

Die andere Seite der Münze, das saubere, gepflegte Holland entlang der Maas. Alleen und Dörfer. Allein.

Es beginnen 80 Kilometer, die sehr sehr lang werden. Die Brise ist steif, ganz selten schützende Hecken oder Hausreihen. Erst einen Takt finden. Niemand vor mir, niemand hinter mir. Die Letzten, die mich passierten beim Reifenflicken haben jetzt 6, 7 minuten Vorsprung,  davor noch andere mit 10 Minuten, aber diese Gruppen werden sich zusammenschließen und gemeinsam schön Kraft sparen, die ich vergeuden muss.So ist das Gesetz des Windes und der Ebene. Fast unmöglich das aufzuholen. Gut, daß es eine einsame, leere Route ist, ich gehe tief ins Gebet des Unterlenkers, solang die Kräfte reichen. Das Pro am rollt ruhig unter mir, zwei Gänge reichen für den Rest des Tages, der Unterlenker reicht tief genug.

an3Manchmal sehe ich auf und schnappe Luft, noch mehr Luft. Nach einer Ewigkeit – die nur eine Stunde gewesen sein kann endlich eine Silhouette, eine Boje im Meer. Und ein Wäldchen, endlich aus dem Wind, den letzten Riegel ziehen. Bio steht drauf und es knackt, als ich ihn durchbreche, er ist steinhart, aber er ist bio und löst sich in der Backentasche auf . Der Vordermann fährt gleiches Tempo. Wo kommt er nur her? Das Trikot erkannt: dunkelblau, der war mit zwei Meisjes unterwegs, 10 minuten vor.

Wir machen  gemeinsame  Sache und lösen uns ab und das tut unendlich gut. Noch 7km bis Thorn sagt er und die Meisjes? die, mit denen er vor meinem zweiten Platten unterwegs war sind fort, to sterk vor mee. Und nach einem Kreisverkehr ist auch er weg, verschwunden, aber dahinten, zwischen den Pappelreihen ist der Turm von Thorn, das Rad verliert keine Luft  – die letzte Pause. Km 159.

am14So komme ich an, als die Meisjes gerade wieder losfahren. Stempeln Kakao, Kirche, Kopfsteinpflaster, weiter allein, das Licht könnte reichen. Das Stück heute in neuem Tempo, Andante, wo wir im letzten jahr noch ein Presto Finale hatten. Aber ich halte den Takt, ich grabe mich in diesem diffusen Schmerz ein, gerade unter der Schwelle. Ich habe das Tempo gefunden.

an5Mit Überquerung der Maas beginnen die letzten 20 Kilometer. Noch einmal beißen, den Wind mit voller Macht schmecken.

an6Wenn das Auto vom letzten jahr grüßt: wie eine Boje, an der man sich festhält. Vermutlich hat es weniger Kilometer als mein Rad  gemacht. Hin und wieder kleine Wellen durch Dörfer. Ausser Abwechslung im Takt zeigen sie, wie weit man die Muskeln gefordert hat. Kommt kein Krampf, dann ist gut. Und plötzlich eine Leuchtmarke vor Dir, irgendwie bekannt. Aus der Gruppe gefallen? Panne?

Es ist der Rickertfahrer aus der großen Gruppe. Einfach platt, sagt er. Ich zitiere DAF: „ich bin tot – und das ist gut.“ Er lächelt, auch wenn er das Stück nicht kennt und es wird ein Mantra für die gemeinsame Fahrt auf den letzten 15. Die Sonne sinkt, er reicht mir noch einen kleinen Riegel, wir lösen uns ab, er kommt wieder an die Oberfläche, vor allem, als ich zwei weitere Trikots vor mir sehe. Hell und Dunkel: graugrün. Das müssen die Meisjes sein.

Also haben sie die Gruppe ziehen lassen, oder sie wollen unter sich bleiben. Sie sehen uns kommen , als es noch einmal die 8 meter Höhenunterschied zum Kanal bewältigen. Letzte Berge. Völlig klar, wir werden sie gemeinsam einrollen, so will es das Gesetz der Radfahrer, Rennen hin oder her, Jagdinstinkt besiegt jede Müdigkeit, jede Entmutigung.

an7Als wir dann Maastricht Nord erreichen sind wir bald zu viert – ein Randonneur NL ist kurz vor uns, dient uns als Pilotfisch, denn die kleinen Abzweigungen jetzt sind vertrackt. Es ist schwer, eine so dicht bebaute Stadt autofrei zu erreichen. Km 200.

an9

Der Abend kommt, die Straßen sind voller Menschen, sie flanieren, der Winter ist vorbei, es riecht nicht mehr nach Krise. Hier nicht und erst recht nicht bei uns, wie wir zufrieden auf das Bier im Ziel zurollen.

an11Gut, daß der „Doyen“  Ivo meine bildreichen Erklärungen akzeptiert. Ich bekomme meinen Stempel, den ersten des Jahres. Gut, daß es die Sofaecke im stayokay gibt, hier sitzen alle beisammen und sehen sich glücklich an. Dann kommen die Nächsten. Die Maschinen füllen den Vorplatz, rote Punkte huschen vorüber. Die Nacht ist da.

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