Wenige Städte in Deutschland haben so viele Gesichter wie Essen. Gründerzeitviertel erinnern an Berlin, Mietskasernen an den Ausfallstraßen tragen die Tristesse der Vorkriegszeit ins Land, die Autobahnschleifen des Nachkriegs durchteilen die Stadt und bilden einen amerikanischen downtown Entwurf -allerdings in 1:8ca . Ich selbst habe fast drei Jahre in Essen gelebt und dennoch war ich bisher nie in Werden. Werden liegt im tiefen Süden, eigentlich schon auf dem Land.
Der Norden der Stadt läuft nach Mühlheim und Bottrop flacher aus und erzeugt mit Relikten der Montanzeit eine eigentümliche Stimmung ( Siedlungen, Siedlungen, Kokereiwolken, Halden, letzte Schornsteine)- Südwestlich des Rüttenscheider Sterns dagegen Täler und Wälder und Seen, die das alles vergessen machen.
1992 war es, Ende September. Ich zog nach Frohnhausen an die Endstation der Straßenbahnlinie. Unten im Mietshaus ein Blumenladen, weiter hinten der Bahndamm nach Mühlheim. Von der Zeche Rosenblumendelle war nicht mehr das geringste zu sehen, als ich mich im Winter 92/93 in unmittelbarer Nachbarschaft zum Werksgelände mit der (mir) unfaßbaren Öde einer Belegprüfung auseinandersetzte.
Von der Zeche, die Renger Patzsch zur Ikone erhob wußte niemand mehr etwas. Nur die Siedlungshäuser standen frisch geputzt in Halbkreisen. Der Freund, dessen Wohnung ich mietete ist nicht mehr – ob die Blumenhändlerin noch da ist? Jetzt alles weiter weg als die Schwarzweiß-Photographie aus der kleinen Dunkelkammer. Eine andere Welt, in der Ralf Rothmann sich bestens auskennt-
Alles vergessen oder alles eines Tages aufschreiben. Jetzt ins Nord Süd Gefälle zurück:
Am Start im Löwental
Bei den Kumpels vom RSC Essen Kettwig hatte ich seit der Begegnung an Soulor und Aubisque noch einiges gut. Der wolkenlose Tag der sich ankündigte, machte es leicht, ein gegebenes Wort zu halten – hunderte standen bereit.
Das Raleigh lehnt mit der Startnummer 320 am Wagen an, fertig für die Hügeltour. Aus dem Vereinshaus des KG Wanderfalke strömen immer neue Radler, einige dutzend sind schon aufgebrochen . Der lauwarme ThermosTee kommt in die Flasche.
Es ist Schlag 8, die Sonne streift die Basilika und in einer kleinen Gruppe warte ich auf das Ergrünen der Ampel.
Die Hügeltour hat Tradition. Es ist eine „mitellange“, knackige RTF von 150km. Sie nutzt die lange Senke des Baldeneysees zum angenehmen Warmrollen – auch wenn einige Heizdüsen darunter ein Tempo von 38+/- verstehen: der Windschatten machts möglich. Danach geht es immer weiter und höher in den Südosten des Ruhrgebiets, bis die Strecke kurz nach der Raststätte Kaltenborn über der A45 nordwestlich beidreht, um über Wuppertaler und Velberter Gebiet wieder ins Ruhrtal zu führen.
In diesem grünen Flecken zwischen Ruhrgebiet, Bergischem Land und Sauerland verstecken sich schöne, anspruchsvolle Anstiege, die Zugereiste vielleicht niemals entdecken würden.
Das Tempo ist flott, an den ersten Hügeln fliegen die Gruppen auseinander, finden sich kurz und zerreißen dann nochmals vor der Kontrolle.Hügelsprinttour.
Besonders scharf fuhr ein junger Mann auf Casati die Sache an. . .
Ich bekomme Gesellschaft
An einem solchen Tag hat man Glück. Gerade habe ich einen Platz für mein Rad gefunden, da stößt an der ersten Kontrolle ein virtuell bekannter Kollege zu mir, Chris AC ist es mit seinem Bruder, den ich Jahre schon aus dem Forum Rennrad-News kenne. Einige male haben wir uns in den letzten Jahren in den Gegenden um Maas und Eifel verpaßt, dann vereitelte ein Unfall ein treffen bei Paris Brest aber heute ist der Tag da . Mit seinem um einige Grad schnelleren Bruder, der uns zur Ordnung ruft, nehmen wir die nächsten 100 Km in Angriff.
Chris AC ist auf einem ebenfalls weißen Klassiker unterwegs und gemeinsam glänzen die Räder in der Sonne um die Wette. Vom Räderbauen versteht er einiges, wir können plaudern und die Sonne genießen. Sein neu lackiertes peugeot PX-neo ist eine Augenweide, begeistert schaue ich auf die Naben die funkelnd rotieren, während wir auf- und ab über die Dörfer rollen.
Zunächst folgen wir noch dem schnellen Bruder, der bald enteilt und uns wieder die nötige Luft zum schnacken läßt. Die Strecke folgt den Falten der Ennepe resp. ihrer Zuflüsse und immer wieder säumen alte, zum Teil aufgelassene Werksgebäude den Weg. Die zweite Kontrolle (an der ich ein paar Nutellavollkornbrote zuviel esse; s.u. ) befindet vor dem Werk1 des Autozulieferers Bilstein, auch Febi genannt. Die Fahnenmasten des altehrwürdigen Unternehmens mit den neuen Hallen knarren metallisch in der lauen Septemberbrise. Wir füllen Wasser nach, das könnte knapp werden.
Vereint stehen die weißen Rösser – Gleich gehts mit ihnen durch den Tann. Ich rolle das Raleigh auf 25er Reifen, die mich einigermaßen komfortabel über die Feld- und Waldwege tragen und die vielen Flicken ,die die Zeit in den Asphalt gegossen hat. Für diese Sorte Belag ist der Rahmen fast schon zu nervös – was machen wohl die Aluminiumfahrer?
Wir durchfliegen das Epizentrum eines Urknalls. Remscheid, Ennepetal und Wuppertal sind Initialzündungen der Industrialisierung Deutschlands. Aus den Mühlen&Sägewerke wurden Drahtziehereien und Federbieger, Klingenschleifer und Kettenschmiede, noch bevor die ersten echten Hochöfen der Ruhr angeblasen wurden.
Aus dem Tal
Hinauf aus dem dichten Wald. In Sichtweite der Sauerlandlinie – Autostrada 45 zwischen Gießen und Dortmund- erklimmen wir einen saftigen Anstieg.Die 26Z hinten müssen reichen: während das NeoPX10 mit 32 zähnen den Piloten Kraft sparen lässt.
Hier ein Opfer der modernen Schalttechnik, dem der Aachener Samariter mit Werkzeugtasche ermöglicht, die Kette zu nieten.Doch auf dem kleinen Blatt wird er die Tour beenden. Sie nieten und ich mache
1 Werbefoto für Suzuki – Sonderserie Ranger. Was aus Tschick geworden wäre, hätte er dieses Auto gestohlen . . ..?“
Ein herrlicher Moment, immer wieder unterbrochen vom Keuchen der nächsten Hügelbezwinger – Dahl Rölvede. In gepunkteten Trikots sind sie an uns vorbeigerauscht, dabei ein blaßgelbes Rad alter Machart : nachsetzen.
Auf den Trikots, deren rote Punkte eigenartig abgeeckt sind, stehen Namen und Zahlen. Zeitangaben ? Zwei Hügel später ist es so weit, der 1.Gepunktete wartet auf Mitfahrer.
Das Raleigh gefällt uns, mir vor allem die Farbe, ein ungewöhnlich blasses gelb zwischen Neapel- und Mimosengelb. Es läßt auf der Runde viel carbon und viel elektrisch geschaltetes hinter sich. Und die Punkte: sie zieren die Finisher Trikots des Ötztaler Radmarathons. Die idee mit den angeeckten Punkten ist sehr gelungen, nur Namen und Zeit wirken ein wenig sträflingsmäßig.
Aber es erfüllt einen Zweck – ich kann die FinisherSeite aufrufen und stelle beim Blick in die endlose Ergebnisliste des Ötztaler Marathon fest, daß ich mich (virtuell) weit hinter den ersten 1500 bewege . Geburtsdaten machen mir Hoffnung: Sportsleute an die 60 Jahre schaffen es in die top 100, der Gewinner ist kaum drei jahre jünger als ich.
Wenn man es also richtig macht, hält Radsport sehr lange jung oder fit. Den Ötztaler in 8 Stunden? Nächstes Jahr vielleicht . . . träum weiter – und verpasse die Ennepetalsperre. Kontrolle3
2km wieder aufwärts, ich werde lächelnd erwartet. Flugzeuge ziehen über dem glitzernden Stausee ihre Kreise, ein Segelboot nutzt die Brise und in der Ferne tuckern Vintagemotorräder. Altweibersommer 2016.
Ein Nutella zuviel, oder eine Erdbeermüslischnitte oder was auch immer. Die nächsten zehn, zwanzig Kilometer sind eine Bestrafung. Nur bergab geht es noch, im Schlepptau des schnellen Aacheners fühlt sich mein Magen hart wie ein Tennisball an, der sich hin- und wieder kontrahiert.
Erfolgreich bekämpfe ich dann auf einer langen Geraden den Krampf, der sich gerade seinen Weg durch den Oberschenkel bahnt. Massieren, Schalten, massieren und gleichzeitig trinken, ohne die Aachener Brüder aus den Augen zu verlieren. Es wirkt, der nächste Berg (Beyenburger Straße) geht schon wieder- aber ich bin gewarnt, es nicht mehr zu dolle zu treiben.
Deutsche Ardennen
Bisher dachte ich immer, die Eifel sei das Schwestergebirge der Ardennen , aber die Hügeltour scheint mir ganz nach dem Muster von Liege-Bastogne-Liege gestrickt zu sein, denn plötzlich meine ich, mich im berühmten Stockeu zu befinden, in einer Rampe von bis zu 16, meist aber über 12%. Sie haben sie Wackermanns Hill getauft. Hier kann ich zeigen, was ich bei der Eroica gelernt habe: Wiegetritt.
Dafür werden die Bezwinger dieses Steilstücks mit einer Aussicht belohnt,
die man nicht länger beschreiben muß. Der wirkliche Lohn ist Kontrolle 4, dem Stelldichein der 110er und 150er Runde. Prompt werden anständige Fahrräder gesichtet
sowie die Schicke Mütze auf Trainingskilometern für die große Eroica am nächsten Wochenende.
Mit frisch gefüllten Flaschen geht es zum nächsten (aktiven) Technikdenkmal hinauf, ein doch kerniger Anstieg, den Mitfahrern hier wohlbekannt und Gelegenheit zu veritablen Sprintentscheidungen.
Der Sender Langenberg. (seit 1927)
Meine Liebe zum ätherischen Funk ist bekannt und in dieser Woche erreichten uns neue Nachrichten von den Rückzugsgefechten. Einerseits ist der Staat sein UKW leid sähe es am liebsten digitalisisert, denn auch wenn es immer noch das schnellste Nachrichtenmedium der Welt ist, wünscht man sich statt content leiber mehr Einkaufsradios, andererseits begreift man in der Kurzwellenecke, daß es sich auch um ein medium der Meinungsfreiheit handelt. Radio funktioniert über Antennen ( und/oder Satelliten) , nicht über Serverknoten. Gerade KW Sender haben eine weltweite Reichweite – von einem einzigen Punkt aus gesendet. Sie können nicht wirklich unterdrückt, abgeschaltet oder mit Lizenzentzug bedroht werden. Und: wieviele gerade wirklich mithören, weiß niemand. Google und Nordkorea reichen nicht bis Langenberg.
Das Ende
Chris AC und sein Bruder sind für eine handvoll Pommes abgebogen, die Schicke Mütze kürzt den Heimweg nach Düsseldorf ab. Ich erreiche Essen Werden allein und genieße kurz vor Abrollen einen Espresso. Am Marktplatz von Werden stehen die Leute Schlange für ein Eis – mir soll gleich ein echtes Bier reichen.
Der Hof des Vereinsheims ist gut gefüllt, die Wimpel der bewältigten Anstiege hängen über dem Tresen. ich proste Ihnen mit einem Stauder zu und bedanke mich bei den Veranstaltern.
Hallo Christoph, schön, dass Du mich in Deinem Bericht in meine alte Heimat mitgenommen hast. Ins Bergische, an den Rand des Sauerlands, wo meine Familie ihre Wurzeln hat. Zeit für mich, endlich wieder diese Gegend neu zu entdecken – am besten auf meinen alten, treuen Colnago. Acht Gänge, ein 26er hinten muss reichen.
Es gibt schon anspruchsvolle Rampen dort. Der 2/300er Bervet aus Siegburg (Rainer Paffrath) führt dort entlang. Mir gefallen besonders die kleinen, engen Serpentinen an Waldhängen, die nur der einheimische befährt. man wähnt sich dann weit weit außerhalb und doch befinden wir uns unter Millionen.