August 2019, Der Rückweg aus dem Weindorf: eine Reise mit Unterbrechungen.
Eigentlich hatte ich mir gar nicht so viele Kilometer vorgenommen. Der heiße Tag gestern hatte gereicht. Auf sehr warmen 250km verdampfen Mineralien .
Ein schöner Ausklang, gute Gespräche und das undeutliche Gefühl, wenn man einen Ort wiedersieht, an dem man gelebt hat, unverändert und doch nicht gleich, der eigentlich gar nicht mehr ist, weil er aus flashbacks besteht. Ein Wachtraum bei dem Bilder in Deckung gebracht werden müssen, die gerade durch die müden Pupillen fällt. Muß I denn.
Die Magnetnadel zeigt nach Norden, die Sonne kommt schräg, später ganz von hinten Sie wird am ende links vorn untergehen. Die Wärme hier unten ist eine andere, liegt sofort auf der Haut, am Trikot, das frisch gewaschene.
Das schwebende Gefühl, wenn man die alte Trainingsstrecke wiedersieht, die gleich ist und sich soch überhaupt nicht mehr gleich anfühlt : flacher, harmlos und beinahe lieblich. Das ist der Lohn für viele Kilometer seit 2011 – fast wie am Weinberg.
Dann den Film von gestern rückwärts fahren, nur mit anderem Licht und anderer Besetzung.
Ein paar Freizeitfahrer als Begleitung. Erst überholen sie keck, bieten (ohne es zu wissen) Windschatten, lassen mich ihre Muskeln studieren und ihre leichten Maschinen. Und Trikots, während sie versuchen, Dich und das Raleigh auf die ignore Liste zu setzen.
Jedes Trikot spricht seine Sprache. Die italienischen, die Bikeholidaytrikots, die Team Trikots und die Markenbotschafter. Vorsicht, wenn einer mit dem BDR Zeitfahrtrikot an Dir vorbeirauscht. Vorsicht wenn auf den Shorts nur steht: GER. Den lass ziehen oder rede mit ihm.
Für Betrachtungen ergiebiger sind neue shorts und auffällig braungebrannte, rasierte Beine. Ein hübsches neues Rad auch. Entweder ihr fahrt damit euren 40er Stiefel auch über die Kuppe weg oder nicht.
Nach 50km bin ich gut eingerollt, die Hitze macht die Farben blass, auch die Lok ist blass, da unten werden Gleise repariert, die ich einmal wählen wollte. Northwärts weiter.
Der Motor des Wohlstands liegt hinter einem Autobahnkreuz, von dem jeden Morgen in Radionachrichten zu hören ist. Die Bäume sind kantig geformt, in flüssigem Schwung führen Straßen auf graue Kisten zu. Der Motor des Wohlstands ist grau, schlicht, eckig; eine Lieblingsfarbe unter Automobilen inzwischen.
Von dieser eleganten Brücke kann ich lesen : Hasso Plattner Ring.
Formen Fürsten unserer Tage ihre Domänen nach ihrem Bilde? Gott zum Wohlgefallen, und ihre Residenzen zu seinem Ruhme ? Die Parkhäuser haben mehrere Stockwerke. Eine Ahnung. Nicht weit von hier liegt Schwetzingen, historisch betrachtet :vor der Aufklärung. Zur Sonne! Zum Licht!
80 oder 90km sind es. Jetzt Mannheim oder Heidelberg?
Die Ebene durchkämmen, Odenwald als Schattenriß. Nach Heidelberg zum Bahnhof. Hinten kreuzt ein roter Strich die abgeernteten Felder. Nahverkehr HD-MA; nach Schnauze fahren, an einer Bücherkiste halten in Edingen, kurz nach der Malzfabrik. Nur Grütze. Einrichter eines Bücherkastens sollten den Mut haben, die Volksverblödung fortzuschmeißen, damit die zweite Reihe eine Chance hat. Man braucht nicht „um jeden Leser froh zu sein“. Miene Wahl fällt auf das Jahr 1954.
Das ist das Fresko, das sind unsere guten, alten 50er Jahre. Pferde und Sonnenwagen, so war das damals.
Das ist der Vorplatz. Der Bahnhof summt und brummt, verschwitzt unter den Helmen wird eine Anzeigetafel bewundert, der Fahrkartenautomat befragt.
Nach zwanzig Seiten stehe ich vor dem Eiscafe Bertolini, Am Hauptbahnhof in Weinheim. Sie haben uns rausgeworfen: „Der Zug endet hier, bitte nutzen Sie den Schienenersatzverkehr“. Aber Bertolini ist eine Augenweide, fahrt hin.
Pistazie, Melone und Haselnuß. Wie weit ist Darmstadt? Große italienische Augen.Dann spricht der Chef. 35km Bergstraße. Die Sonne scheint, sie brennt nicht mehr und ein Bus schafft das auch nur in einer Stunde. Ein Rad passt schlecht in einen Bus, viele Züge gehen nach Frankfurt.
Ich mache mir ein Zeitfahren auf der Bergstraße, Alleebäume, Geraden, leichte Steigungen. DAS geht mit dem Raleigh Record Ace moderne gut, oder vielleicht geht es mir gerade gut. Das heißt paradox: sich gestreckt quälen, Autos an Ampeln einholen, Busse und Bahnen verschmähen, wieder auf Tempo kommen. Dieser späte Sommer ist ganz groß. Eberstadt, noch eine Steigung, noch eine letzte Villensiedlung mit Straßenbahnhaltestelle. Et voilà.
Den kleinen Zeichen folgen, dann liegt er vor mir. Im Stil der zeit. Wie ein riesiges landhaus – ich mag dreigeteilte, senkrechte Fenster. Die Sezession (Mathildenhöhe) wird schon angedeutet. Arts and Craft statt Wuchtbauten.
Während sich Wilhelm unser zweiter in die Gestaltung deutscher Bahnhöfe persönlich einmischte, mußt er hier dem Hessen-Darmstädter Fürsten freie Hand lassen (Verwandschaft). Das erspart den Darmstädtern bis heute historischen Schwulst. Hierzu: Wiesbaden et al.
Die Halle ist die nächste Überraschung. Bei heute konstant30 Grad ist es hier luftig und angenehm temperiert. Irgendwie zahlen sich Umwege aus.
Warum bauen nicht Milliardäre solche Gebäude? Stil, Qualität, Nutzwert. Am Geld fehlt es nicht. Warum finden unsere Fortschritte in Nanobereichen statt, bei Mikroelementen und Nachkommastellen?
und schon werden die Tage kürzer.