Das schöne am Radfahren: man verlernt es nie und lernt nie aus. Es ist wie mit dem Fluß in den man steigt- nie ist er derselbe. Und genausowenig die tour, die man schon lange kennt. Das Wetter, die eigene Form, die anderen Fahrer. . ..
Einer der Orte, die ich von hier in der Stunde mit dem Auto erreiche: Obermörlen an der Wetterau. Ein aktiver Verein, dessen malerische Route südlich der Lahn viele Vereine aus Nord (Gießen) und Süd (Frankfurt) anzieht. An meine verregnete RTF vor zwei Jahren erinnere ich mich dennoch sehr gern, weil ich dort endlich einmal einen leibhaftigen Paris-Brest Teilnehmer treffen sollte. Ob er heute wieder unterwegs ist?
Ein heißer, wolkenloser Tag nach drei voraufgehenden wolkenlosen Tagen war sicher. Wärmegewitter – vielleicht abends.
Also das Sonntagsrad in Sonntagsform ausfahren: dazu den Regal Ghirardi einreiten! Um Punkt 7 stand das Eddy Merckx lässig und startklar am Wagen. Ich genoß schnell die (reich gedeckte) Frühstückstafel, kippte den ersten starrcken Café und rollte an/ab,
: – in die Felder. Die Luft ist weich, frisch und schon ein wenig stoppelwürzig. Leicht wie eine Schwalbe fliege ich über die WirtschaftsWege, mal mit mal ohne Begleitung.
Dann treffe ich auf eine wirkliche Schwalbe, einen Fahrer vom RSV „Schwalbe“ Asslar. Auch er will 150km machen. Eigentlich. Der Mann hat aber Kopfschmerzen und auch eine ibuprofen intus, sagt er mit polnischem Einschlag . Ich sehe mir seine Oberschenkel etwas genauer an.
Rennfahrer
Radsportler die behaupten, sie seien eigentlich gar nicht in Form, sind extrem verdächtig. Sie sind schnell und werden das bei Gelegenheit beweisen.
„Nur kurz stopp und weiter,“ sagt er noch an der ersten Kontrolle, dann machen wir uns an die Arbeit. Ich bin bereit.
Zuerst: den Unterschied zwischen Rennfahrer und Randonneur erfahren. Ein Rennfahrer hat keine Zeit – besser: verschenkt keine Zeit. Die Fahrt verläuft nicht nur in höherem Tempo, sondern auch mit höherer Konzentration. Bergab wird tempo gemacht (nicht gerollt) , bergauf sowieso. Nicht extrem, aber stramm, denn Körner spart man fürs letzte Drittel.Rennfahren bedeutet auch, kein Hinterrad verschenken. Im Flachen gehts anfangs schonmal nebeneinander her, aber nur kurz, dann geht es wieder zur Sache.
Wir sind inzwischen ein trio, ein altgedienter Radsportler hat sich dazugesellt; die beiden kennen sich, Vereinsfahrer kennen sich, ich bin der geduldete Freizeitroller auf einem schönen alten Rad.
Der Freizeitroller hilft dennoch mal vorne aus, nutzt sein konkurrenzloses 52×12 auf Gefällestrecken und freut sich über die förmlich aufgesaugten Vorfahrer. Startnummer um Startnummer ziehen auf einsamen Landstraße vorbei .
Autos schlafen noch, während das Morgenidyll unerwartet schnell an ihnen vorüberfliegt. Die Schatten werden kürzer, eine Pause notwendig.
Spüre, wie ich meine Reserven jetzt schon ankratze. Nicht gut. Also an Kontrolle 2 die Rennsportler fahren lassen, bedanke mich kurz und nehme noch ein wenig Salzkeks. Jetzt segeln lassen, wieder Tourist sein dürfen. Allein, in mir ist aber noch zu viel Adrenalin.
Nach einer bukolischen Talpassage mit winziger Brücke über den Bachlauf und vielen Spätblühern erreicht die Strecke wieder die flache Landstraße. Ortsschilder. Männer besuchen Mülleimer, Frauen wischen Fenster. Dorfleben mit Fachwerkrahmen und sauberen Fugen.
Aus dem TourenModus heraus nehme ich erneut Fahrt auf : wie zuvor , aber -5%, das kann ich durchhalten, ich verschenke keine Kurve, keine Abfahrt, keine Ecke. Die Kilometer mit den Rennfahrern haben die gesamte Perspektive verändert. Das warme Wetter ist Nebensache, die Straße eine Strecke, deren Widerstand ständig zur schnelleren Überwindung neu berechnet wird.
Schloß Braunfels (taucht auf) ist nur eine Briefmarke am Horizont. Die Abfahrten genieße ich mit dem Merckx, sicher und leicht steuert es in die schnellen Kurven, die Rasterung schaltet genau und leicht – klick, klick klick. Eddy hatte recht.
Eine Schotterpassage – aha! vor der hatten sie am Start gewarnt – …“wissen Sie, es gibt Teilnehmer, die würden es uns übel nehmen, wenn wir nicht darauf hinweisen. “ : -das müssen meine Verfolger sein, die mit 24speichigen Carbon Aerolaufräder hier eine halbe Minute auf mich verlieren.
In dieser Paranoia weiter bis zur nächsten Kontrolle: sie haben mich nicht bekommen.
Oha! die 2 anderen sind noch da! Da stehen sie, Rennsportler und wundern sich über mein Eintreffen. Lob des Tages – „Kommst Du mit?“
Belegfoto, schnell stempeln, Flasche füllen, vier Melonenstücke einwerfen und zurück in den vollen Rennmodus. Im Flachen die 300m aufholen Anschluß nach 80km
Eine alte Erinnerung an die Strecke – es geht irgendwann rechts und dann ein paar Kilometer hoch. Bis die Lichter ausgehen, oder eben fast . Zuckende Oberschenkel sind bedenklich, selbst wenn ich dranbleibe.
Das ist der rote Bereich. Die Muskulatur verweigert. Ein letzter, kerniger Anstieg aus dem Tal der Weil wird aber meine Rettung. Die Rennschwalbe kurbelt kraftvoll seine 36×24 aufwärts und enteilt – vorbei an einem letzten dutzend Fahrern, auch der ältere Jockey läßt reißen, ich keuche hinterher, als ich das rettende Trikot erkenne.
Das muß er sein. Werner Ehrlich, der Randonneur von der letzten Ausgabe. Hier lernten wir uns kennen. Ein brasilianisches Audax Trikot – ja! Ich passiere ihn, grüße und mach ein Bild. Er staunt und nach einem Moment lacht er „Bis gleich!“ rufe ich.
das letzte mal noch frug ich ihn an dieser Stelle Löcher in den Bauch, heute grüßen wir uns als Paris-Brest Absolventen. Er glatte 10 Stunden schneller. Soviel muß aber gesagt sein: weder auf Essen noch auf den Schlaf legt Werner so viel wert wie ich.
Der Randonneur
Einige Kilometer später sind die Lichter aus, haben die Krämpfe gesiegt. Einmal haben wir uns noch zusammengeschlossen aber nichtmal bergab kann ich folgen. Dann letzte Kontrolle. Roman, der pacemaker gibt mir die Hand zum (ehrenvollen) Abschied. Ich erkläre mich und wünsche den beiden viel Glück.
Völlig leeer setze mich auf die Stufen und warte auf die Randonneure. 10 Minuten später feiern wir unser Wiedersehen und machen uns auf die letzten 25km. Brest-Erzählungen 65h für Werner, die Fahrten des Jahres (ein 1000er im brasilianischen Sommer) , die Flêche im nächsten Jahr. So geht es in der Hitze dahin, und ich leide leider immer noch. Aber im Randonneur Modus kann ich mich auch erholen, niemand forciert.
Traktoren bereiten die Felder auf. Die Hitze tanzt über den Bäumen und verwischt die Umrisse. Heu liegt in sorgfältigen Bahnen, weiter hinten zu einer Rolle geformt . Für die Kühe im Winter. Aber der Sommer schlägt vom Asphalt aus zurück. Dazu noch ein trockener Wind direkt von vorn – erst auf den letzten Kilometern kommen die Kräfte wieder. Ein Weizen bitte.
Randonneure sind die weisen Männer des Radsports. Sie werden nicht schneller, sie werden nicht langsamer. Sie wissen, wie man mit Kräften haushält und halten den Blick frei für die schönsten Aussichten des Sommers.
Wiedermal erstklassig & bilderreich geschrieben, danke !
Ermutigend- Meinen Beitrag über die erste Fahrt habe ich gleich einmal korrigiert – gibt es vieles zu lektorieren … Danke fürs Lob,
Team Stuttgart rollt wieder! Fein gemacht!
Team Stuttgart grüßt den Teamkollegen in berlin und verneigt sich vor seiner turmhohen Leistung in den vereinten Mittelgebirgen
Schön anschaulich beschrieben, das Dauerdilemma bei solchen Veranstaltungen: Wie kalkuliere ich, ob mir der Anschluss an Fahrer, die etwas schneller unterwegs sind, eher hilft oder meine Reserven vorzeitig auslutscht? Manchmal tut man sich damit einen Gefallen, ein andermal nicht, es gibt da wohl keine idiotensichere Formel, man muss es jedesmal neu herausfinden.
Ich glaube mit Wattmeter und Cardiometer und einer guten Kenntnis der eigenen Durchschnittsleistung würde man da sehr schnell bescheid wissen. So aber kann ich mich nur auf das aktuelle Körper/ und Formgefühl verlassen.
Beides steigt mit der Jahreskilometerleistung, die alte Weisheit. Es gibt aber noch etwas ganz anderes: Werte und Zahlen sind nur das eine, beides triitt in den Hintergrund, wenn der Wille dazukommt, die Grenze zu überschreiten. Das geht nirgends leichter als mit guten (besseren) Fahrern und am Ende ist das Erlebnis ein ganz anderes.
Radsport ist eine Transzendenzübung.
Wäre ich Radsportler, würde ich mir diesem Satz auf den Unterarm oder die Oberschenkel kurz vorm Knie tätowieren lassen, damit ich ihn immer im Blick habe.