ao4114 h später bin ich wieder am Ausgangspunkt, mitten im Frankfurter Hauptbahnhof. Ich habe gerade die kleine Lokalbahn um 2 Minuten verpasst und der Ausfall des nächsten Zugs hält mich für weitere 2h im Bann dieses großen Orts. Die riesigen Stahlträgerbögen, die das Dach des Bahnhofs morgens in hunderttausend Fragmenten glitzern lassen, sind jetzt in dunkler Ferne, das hellste Licht strömt aus der Ladenzeile am Kopfende der gigantischen Halle. Ich habe unerwartet viel Zeit, den Tag Revue passieren zu lassen, während ein gut eingespieltes Team die Kundennummern des Burger King aufruft. Sie sind gut eingespielt, noch eine halbe Stunde dauert die Schicht – wir Kunden, Die Reinigungstruppe, die Mädchen in knöchellangen Gewändern an den Tischen wir alle: ein buntes Gemisch.1 Fahrrad.

am514h vorher stand ich mit OS (Name der Redaktion bekannt)  an einem dieser kleinen säulenförmigen Universalautomaten. Und zauberte dank seiner kundigen Hilfe ein Überlandticket für den Tag daraus hervor. Die Bahn kennt unsere Absichten, wir wollen über Land, wir wollen in den Odenwald – meet and greet in Mannheim.

ao11Das Wetter ist noch einmal umgeschwungen –  wir umkurven Pfützen und kleinere  Astbrüche in einem Mannheimer Park und rollen geschmeidig aus der Stadt hinaus.Wir sollten  zu 7t sein, mannigfaltige Räder, meistens mit Schutzblechen, Metall aus 40 Jahren.Erstmal bezwingen wir die Rheinebene, verlassen die Rasterlogik ausufernder Wohnstätten.

Vorbei am Kraftwerk, es soll tatsächlich nur mit Kohle betrieben werden. Dann entlangder  Hochspannungsmasten Richtung Heidelberg, überqueren wirddie großen NordSüdachsen der Deutschen Railion; unterqueren Autobahnen und sehen die bewölkten Höhen des Odenwalds allmählich heranrücken.

ao21Bevor es an den herben Ansteig zum Königsstuhl geht, grüßen wir das größte Kaufhaus der Stadt. Die Pracht und die Herrlichkeit. Es wird berichtet, wie geschickt der alte Eigentümer seine privaten Finanzen in Sicherheit gebracht hat, während drinnen die Lichter flackern. Die Sonne scheint, wir geniessen, solange es geht.

Denn es  wird ernst. Links erhascht man in den Serpentinen noch die Schloßruine, passiert Villen in Halbhöhenlage und sieht sich recht unvermittelt Rampen gegenüber, die ein gutverdautes Frühstück verlangen.

ao24Ich darf nach den folgenden 3 Kilomtern sagen: wer einen sogenannten Pizzateller oder ein drittes, kleines Kettenblatt hat, ist gut beraten. Die Heidelberger jedenfalls haben einen alpinen Übungsberg gleich hinter dem Gartentor, den man ihnen neiden kann. Wir kauen andächtig die ersten Riegel und Bananen an der kleinen Hütte.

a017Das Tor zum Odenwald, einem Gewoge von Abfahrten und Auffahrten, kleinen Seitentälern, Dörfern und Gehöften. Noch vor gar nicht langer Zeit war es die große Sommerfrische, das kleine grüne Erholungsparadies vor dem Jet Zeitalter. Unsere Fahrt unter dem Radar der Reisebüros ist einstarkes Konzentrat solcher Urlaubstage.

ao23Apfelbäume alle noch in Blüte, es ist eine Zeitreise zurück in den Frühling. Unten werden langsam die Erdbeeren reif, hier messen die integrierten Sensoren 2 Grad (oben) oder 6 Grad (im Tal), da läuft das Jahr etwas langsamer.

Einen wichtigen Vorteil des kühlen Aprils erkennen wir schnell. Unser zweirädriger Freund, das Motorrad, bleibt mehrheitlich in der Garage oder bewegt sich an wärmeren Orten.

am1Wir bleiben also von den Kolonnen der (anderen) silver – ager verschont, können gemütlich im Gespräch nebeneinanderher rollen. Was sind die Dinge, die uns bewegen? Die nächste Wolke, der nächste Höhenzug. Die Gruppe rollt gut, wenn nach 2 Stunden keine Panne eintritt, ist das ein gutes Omen.

Wir genießen es, von niemandem behelligt zu werden, ganz selten grüßen wir einen Radfahrer, auch wenn dies ein ideales Terrain ist., die Daheimgebliebenen werfen nur kurz einen Blick über den Zaun und gehen dann ihrem Geschäft nach.

ao18Wir schwingen in die nächste Kehre, sortieren die Gänge neu und oben wartet die neue Aussicht. Welle um Welle, für den Radsport ist im Odenwald genug Platz. Für den Fremden ist der Charakter dieser Landschaft diffus. Tal folgt auf Tal, die sanften Höhenzüge und Wälder gleichen sich, es ist ein schönes Land, wie im Märchen wissen wir bald nicht mehr, wo wir sind.

ao12Fast jedes Ladenschild wirkt historisch, die Gewerbe“freiheit“ der Dörfer und auch kleinen Städte ist nicht zu übersehen. Wer etwas braucht, muß in die Metropole, wo der große Rewe Markt die zentralen Versorgungsstätte für Alles  ist. Die Umbrüche schreiten fort, seid 2019 nach meiner inneren Uhr, es kann auch schon etwas früher gewesen sein.

In Eberbach satteln wir ab, ein wenig Wärme wäre gut und etwas zwischen die Rippen. Die Ausfahrt kann sich an der Theke entscheiden.

am2Nette Bedienung beim Kettenbäcker rundem, irgendwie altdeutschem Gesicht. Man kann das aus Marienfiguren der rheinischen Meister im 15jh. Jedenfalls ableiten.  Hinten rechts der gut besuchte Pfandautomat, vorn strömen die Kunden ein und aus, einer beschwert sich über das heiße Wasser in der Kundentoilette. Es gelingt mir nicht, zwischen zwei gefüllte Einkaufswagen mit Pfandflaschen zu schlüpfen,  ich überlasse die leere Kefirampulle der Kasse.

Wir verlassen die Stadt, die von massiven roten Sandsteingebäuden in ihrer Mitte  geprägt wird; dies sind die festen Plätze im Reich des Würzburger Bischofs. Seinen Bewohnern beliebt nicht s anderes übrig, als Aufgetautes, Aufgebackenes und Eingemachtes zu essen, bis der Herbst kommt.

ao13Die Wälder haben uns wieder, wir streben dem Kulminationspunkt zu, allen ist wieder warm, mir wird müde. Kaffee ist auch nicht mehr, was er mal vor dem Krieg war. Wir arbeiten uns vor, es geht zum Katzenbuckel, die höchste Kuppe der Region.  Es ist keine sehr markante Erhebung, ein windfreies Hochplateau führt dorthin, die Bäume werden spärlicher und der U, unser Bergführer freut sich, daß hier so üblichen Niederschläge ausbleiben.

Die Höhe des Katzenbuckels wird über einen kleinen Weg am Ortsende erreicht. Die letzten hundert Meter sollen recht grob und steil geschottert sein, wie mir die wenigen berichten, die ihn erreicht haben. Zu sehen gibt es eigentlich nur Wald, aber so ist der nächste Nagel am virtuellen Spazierstock, der den Namen strava trägt.

ao31Mitten im Dorf, schon auf der Abfahrt spricht ein Gebäude von Herrlichkeit und Niedergang eines Berufsstandes. Das Hotel Adler ist dem Verfall preisgegeben, ein ansehnliches Gebäude, in dem viele Familien ihre Ferien verbracht haben dürften. Ihnen reichte vermutlich die gute Luft hier, die sie von der rauchgrauen, stickigen Rhein/Main Ebene gewohnt waren. Ob der Klimawandel dem Adler oder seinem Nachfolger in die Hände spielt?  Die schöne Abfahrt allein ist es uns wert.

am3Der Odenwald überhaupt ist es wert. Wir sehen noch eine Landkultur, die auf Milchtüten, Bilderbüchern oder Serien des öffentlich rechtlichen verbannt scheint. Früher hielt sich jeder im Dorf eine Kuh, Hühner oder ein Schwein. Die mangelnde Zeit ist es nicht, davon gibt es (postindustriell) mehr denn je, vielleicht ist die Gebundenheit an eine Wiese, an zwei drei Kreaturen das Problem. Jedenfalls, solange der nächste Markt weniger als 30 Autominuten entfernt ist. Bauern erregen in einer virtualisierten Gesellschaft eher Verwunderung denn Anerkennung. Früher galten sie einfach nur als rückständig heute stellt  t man sie als Euroschnorrer mit zu großen Traktoren hin, wenn sie nicht in das dekorative Narrativ der Rama – Familie passen.

Ich aber genieße kurz den strengen Duft des ungenormten Misthaufens.

ao32Mit einer Rampe Richtung Tromm quält uns der vorzügliche Routenplaner, danach wird es (dank Ritter Sports Olympia) zwar angenehmer, aber heraus aus dem Labyrinth der Hügelketten kommen wir erst kurz vor Schluss.

am4Als ich mir das Rad kurz abstelle und beruhigt auf die Regenfront schaue, die sich hinter uns aufbaut, sind die Körner weitgehend verschossen. Dieser letzte, schöne und zähe Anstieg macht den Kohl echt fett. Er führt mit der K18 über Mackenheim nach Ober–Abtsteinach. Eine makellose, mittelbreite Straße mit schönem weißen Zierrand  auf der man sich in aller Ruhe quälen kann, bis nichts mehr geht.

ao16In Weinheim teilen wir uns dann auf. Drei in den Zug nach Frankfurt, drei nach Mannheim und einer noch Extrameilen über Darmstadt nach Frankfurt. Hätte ich gewusst, wie viel Zeit ich am multinationalen Hauptbahnhof vertrödeln würde, wer weiß, dann hätten wir den Tag zusammen zuende gefahren.

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Absturz in die Senator Lounge – Notiz zur Geschichte der großen Limousine

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Wir befinden uns (gedanklich)  im 20ten Jahrhundert, dem großen Jahrhundert der großen Automobile. Nichts vermittelt Status so deutlich, wie eine große Limousine.  Allen voran verkörpern die gewaltigen Schlachtschiffe nach dem Muster der Cadillac Fleetwood, Lincoln Towncars oder Chrysler New Yorker den Rang ihrer Insassen. Bevor diese Erinnerungsträger in den Schrottpressen der Metallrecycler verschwinden, bevor diese Epoche überhaupt als Gotik der Mobilität verblasst, befrage ich kurz Zeitzeugen im Mehrkampf um die Europäische Krone des repräsentativen Direktionswagens,  das Fahrzeug der Vorstände der Deutschland AG. Denn inzwischen sind sie aus den Tiefgaragen der Bürotürme auf die Parkplätze der Supermärkte geflohen, bevor ihre letzten Besitzer sie aufgeben werden. Wie hart und vergeblich der Kampf für manche Marke war, wie viel Geld dabei in den Sand gesetzt wurde, das  zeigt weiter unten ein stattliches Exemplar, das ich neulich vor dem Discounter entdeckte. Doch vor dem Ende kurz an die Anfänge, an die Wurzel des markenpolitischen Problems.  

1904 entsteht eine  Automobilmarke namens Opel. Als Nähmaschinen – und Fahrradwerk gerwachsen, erkennt Eigentümer und Radrennfahrer Fritz von Opel (Sieger Basel – Köln) die Vorzüge des sportlichen Motorwagens und setzte sich 1904 , nachdem er mit der französischen Firma (damals Erbfeind) Darracq eine Lizenzvereinbarung geschlossen hatte, ans Steuer des stärksten Wagens im Gordon Bennett Cup. Der 100PS Darracq.  Doch die Freude vor der kaiserlichen Tribüne an der Saalburg starten zu dürfen währte nicht lang. Das damals noch nicht ausgereifte Konzept der Kurbelwelle hielt nur eine handvoll von 500 Kilometern.  

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Viel länger hielt dagegen die Kooperation der Opelwerke mit GM. Motors. Die Firma Opel hatte gute Facharbeiter, GM das Kapital und know how der Serienproduktion. Diese Verbindung hielt 100 Jahre, man ist schon vor dem Krieg sehr erfolgreich und danach mit „Kapitän“  „Admiral“  und „Diplomat“ in der maßgebenden Pontonform eine feste Größe der wachsenden Bundesrepublik. Aber auch die Versuche, mit Leichtmetall V8 und der Formensprache aus Übersee den automobilen=sozialen  Aufstieg möglich zu machen, blieb Opel Marke ein Auto des soliden Mittelstands. Mehr noch als in den USA und Großbritannien, sind im Deutschland der JM-Simmel-Leser Automarken  ein gültiges Spiegelbild sozialer Schichtung. Direktoren fuhren Mercedes, das war schon immer  so.

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Dann beging Opel einen Fehler, den ihm die Aufsteiger der Bundesrepublik nicht verzeihen sollten: das Topmodell der Marke basierte nun auf der Plattform eines Autos für unmaßgebliche Menschen. Mit dem Rekord hatte man 30 Jahre lang einen konservativen, soliden no-nonsense Wagen im Angebot, der von Beginn an auch als Kombi in Deutschland angeboten wurde, was 1965 nur Malermeister oder Bäcker zu schätzen wußten. In Rüsselsheim, immer unter der engen Führung aus Detroit, immer mit Kettenhunden im Boot, besann man sich auf einen alten GM Spartrick: Aus einem Auto zwei machen, ein wenig mehr Chrom, etwas größere Motoren , mehr Plüsch und vor allem: ein prächtiger Name. Der Senator war geboren.

Senatoren nennen sich in Deutschland nicht viele Menschen. Der Titel haftet seit dem Welterfolg von Asterix und Berliner Bauskandalen etwas übergewichtig- behäbiges an, ausserhalb von Stadtparlamenten bot nur die Lufthansa noch eine Senator Lounge. Sie tut es immer noch…

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Ein etwas zweischneidiger Ehrentitel, sah doch jeder auf den ersten Blick unter dem Gewand des Senators den Körper des gutbürgerlichen Rekords. Der Wagen war groß, aber er hatte keine Größe, oder eben nicht, was man dafür hielt. Neben dem Feuerwerk der Mercedes , Audi und BMW Achtzylinder, mit oder ohne Quattro, blieb Opels Senator eben nur Hausmannskost mit etwas mehr Plüsch, ein Bürger als Edelmann. So gelingt der Erfolg in der Oberklasse nicht: es mag für Opel billiger gewesen sein, vom Diplomat V8 zur Senator Lounge zu wechseln – ein Gewinn war es nicht. Der Name verschwand und nie wieder sollte die Adam Opel ein großes  Auto für die Obersten bauen, der Abgesang hatte begonnen.

Interessant ist der Fall deshalb, weil er andere Marken nicht davon abhielt, denselben Fehler mit viel größerem Aufwand zu machen. Denn ausgerechnet der Marktführer tappt in die falle der Senator-Lounge.

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Mitten in Dresden gab es zu Beginn der 1990er viele freie Grünflächen. Vermutlich mehr als in jeder anderen Deutschen Stadt. So groß waren die Flächen, daß der VW Konzern beschloß, dort eine gläserne Manufaktur zu errichten, in der vor aller Augen die edelsten und bestgebauten Autos Europas, wenn nicht der Welt entstehen sollten. Es war die nächste Stufe im grenzenlosen Ehrgeiz des Alleinherrschers über die Welt der Volkswagen: ein Denkmal für den Enkel des Werksleiters von Wolfsburg, Ferdinand Piech .

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Dieses Auto, das ich auf einem eher anonymen Supermarktparkplatz entdecke, stammt aus der gläsernen Manufaktur. Ein makelloser Volkswagen Phaeton, in Dresden penibelst zu Höchstlöhnen von Hand zusammengesetzt. Alles vom Feinsten und dennoch der Absturz von VW in den Friedhof der Senator Lounge.

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Gründe: die Marke, das Gesicht, die Herkunft. Mit Herkunft ist nicht die gläserne Dresdener Manufaktur gemeint, in der auch Bentleys entstanden. Niemand denkt beim VW Emblem an Dresden. Mit Herkunft ist Wolfsburg gemeint, Wolfsburg als Symbol der mühseligen Tiefebene automobiler Massenproduktion. Gut gebaut und maximal unauffällig. Auch wenn man nicht den Fehler (s.o) beging, die Plattform der Passat-Limousine zu verwenden, sah das Gesicht der Luxuskarosse diesem von Ferne doch allzu  ähnlich und auch aus der Nähe war es immer noch ein gemästeter Passat. Nichts, womit man künftigen Kunden imponieren konnte. Understatement ist gut, Verwechslung mit der Vertriebsflotte nicht

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Möglicherweise wäre das Phaeton Konzept für VW sogar aufgegangen, hätte man nicht schon seit Jahren den Regierungs- und Staatskanzleitauglichen Audi A8 produziert. Der hatte nicht nur das Logo der teuren Konzernmarke im Grill, er war auch technisch unverwechselbar – initiiert von ebendemselben Piech.Ganz gleich wie gut und wie hervorragend die Phaeton Limousine war (und ist) – es gibt keine zweite Chance einen besseren ersten Eindruck zu hinterlassen.

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Nebenher sei erwähnt, daß ausgerechnet das automobile Über-ich Mercedes sich mit der Maybach Limousine auf S Klasse Plattform einen ganz ähnlichen fauxpas in die Senator Lounge erlaubte. Allein BMW war klug genug, sich mit dem Kauf von Rolls Royce eine Marke zu leisten, der man neidlos die Rolle der Weltspitze zubilligte. Es dürfte die letzte große Explosionsmotor – Limousine im Geiste amerikanischer Saurier sein. Die Luft wird immer dünner dort oben, die Limousine ist Geschichte – eine teure Geschichte.

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Für die gute alte AdamOpel AG kam das Glück in Form der Peugeot Stellantis als neuer Eigentümer. Zwar verschwand derhübsche kleine Adam und jetzt hieß es, wieder eine Stimme im Chor des neuen Herren finden. Die elektrische Astra Interpretation auf Plattform des 3008 beweist, daß Anpassung die klügere Lösung sein kann.Sie haben ihren Weg aus der Senator Lounge herausgefunden.  

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Miniaturen an der B8 – Die Tankstelle, an der der Wind sich dreht

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Vielleicht stand hier mal eine Pferdetränke oder eine Poststation. Gegenüber der Tankstelle ein alter Gasthof, der lange schon geschlossen hat und ganz nah, an der Kreuzung der B8 stehen alte, analoge Verkehrsschilder. Wir sind auf halbem Weg zwischen Frankfurt und Köln, Dies ist die alte Römerstraße, sie führt in langen Wellen über den Westerwald, von Limburg/Lahn bis Köln. 2000 Jahre bevor es eine Autobahn gab.

Mein rotes Rad ruht in der späten Märzsonne neben der Eingangstüre. Es ist wieder frisch geworden, ich habe es durch die Wollsocken gespürt. Drinnen ein kleiner Shop, eine brauchbare Kaffeemaschine, viele Zeitungen (ganz oben: Hausfrauen ab 50), Snacckxx, das, was der Reisende so braucht.

Die Stele mit dem großen Aral –Logo wurde nach einem Unfall entfernt. 100 Jahre Aral steht auf einem Flyer an der Kasse, wer weiß, wer da feiert? Hundert Jahre ARomate und ALiphate vom Bochumer Verein. Die Bergwerksgesellschaft, die Kohle zu Benzin synthetisierte. Es ist nicht mehr wichtig, das zu wissen. Der Kampf um Energie wird nicht mehr von Bochum aus geführt, Aral ist eine Marke der BP; weniges ist so, wie es scheint.

a5Manchmal hört man einen Traktor und noch lange riecht man in der Luft seine Fährte. Die Luft ist klar, im März kann man sehr weit sehen, die großen Weiher der Seenplatte, die als Wasserspeicher und Fischreservat dienen sind von den Regenfällen gefüllt. Von weitem wilde Schreie, das sind Gänse. Zugvögel sind zurück.

Es ist die zeit des Übergangs, für die Tiere beginnt das neue jahr ungefähr jetzt, für Touristen später.

Noch sind die Kordons der Motorräder nicht unterwegs und die Wohnmobile sind noch eingemottet, nur hin und wieder kommt ein Amazon Fahrer herein, oder einer von GLS, oder einer von DPD. Keiner von DHL, die sieht man Samstagsabends seltener. Neben einer Obstwiese stand einer der weißen Lieferwagen, davor kniete ein Mann und faltete die Hände. Er verbeugte sich zur offenen Beifahrertür und stand wieder auf. Es ist Ramadan.

a4Ich tauche das marzipancroissant in einen dünnen Kakao, dessen Zusammensetzung ich lieber nicht erfrage, weil ich weiß, daß es heißes Wasser ist. Dann rausche ich ab, der Wind ist jetzt mit mir. Erst war es ein schrecklicher Nachmittag auf dem Rad, nach einem Kilometer wäre ich beinahe umgedreht. Irgendeine Müdigkeit und falsche Wärme. Nicht die gute Wärme, wenn man bergauf  fährt. Ich wußte aber, daß wieder etwas neues auf mich wartete, ich wieder etwas sehen würde, was ich noch nicht kannte

a1Nach einerStunde, nach der großen Brücke und den Wäldern wollten die Beine wieder, lief es endlich rund. – warum auch immer.

a7Man muß Geduld haben, jetzt auf den letzten Kilometern läuten die Glocken, es ist also 6 Uhr, Vesper, Heimkehr mit Wind. Die Tankstelle irgendwo weit hinter mir ist jetzt noch drei Stunden geöffnet. Drei Stunden, in dem ein Kid aus dem kleinen Dorf sich am Wochenende etwas Geld verdienen kann. Für den Führerschein, für die Kaution der ersten WG oder nur ein Auto.

a81Ziemlich genau auf halbem Weg zwischen Frankfurt und Köln

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Fremde Federn

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Grant Petersens wüster Schmäh

es ist immer wieder ein Genuß,  die Kommetare Grant Petersens, diesem Parzival in der Nische des schönen Rivendell zu lesen .Diesen ersten Teil hat er unlängst auf seinem „Blahg“ veröffentlicht, direkt bei seiner homepage rivbike.com. Grant peteresen hält nun wohl dreißig Jahre die Fahne eines klassischen Mehrzweckrasdes hoch. Er bietet Rahmen für  Touren, Stadt, Berge, Sport –  mit entsprechenden Komponenten an. Die Namen sind fantasievoll und kein Hersteller weltweit dürfte so viel Zeit und Liebe auf headbadges, Lackierungen und Ausstattung siner Modelle verwenden. hier meine frische Übersetzung seines Textes, der eine deutliche Position und klare Sicht auf die Zukunft des Rades und seiner Nutzer einnimmt.

Als in den 1970ern  zehn Gänge in den Staaten die Norm wurden, schienen sie ein Gottesgeschenk, denn endlich gab es große Gänge für schnelles Fahren und Kleine für Steigungen. Schalten war nicht schwierig, aber wie die meisten Dinge, die sich zu lernen lohnen, brauchte es dazu Übung: erst schneller oder etwas lockerer treten, um Spannung von der Kette zu nehmen, dann schalten, dann wieder feste in die Pedale hauen. Auch erfahrene Radfahrer sind ein Leben lang unterwegs gewesen, ohne die Bedeutung einer geringen Kettenspannung zu kennen, wie Einradfahrer, die sich um Physik keine Gedanken machen.

Die Hurets, Campas, zeus  und Shimano Schaltungen jener Tage schalteten gut, doch keine so gut wie eine SunTour. Das lag an Nobuo Ozaki, der 1964, als Amerikaner dachten „made in Japan“ bedeute schrottig und nicht einmal bekanntwar, ob Japaner Fahrräder hatten, ein Schaltwerk mit Schrägparallelogramm entwarf , das für das Schalten am Hinterrad ungefähr ist, was beim Bierbrauen die Gärung. Sein Patent hatte eine Gültigkeit von 20 Jahren und als es 1984 auslief, kopierte Shimano den Entwurf und führte die gerasterte, genauer: indexierte Schaltung ein. (ohne ein Schrägparallelogramm würde eine Indexierung nicht wirklich funktionieren).

Indexierte Schaltungen wurden als  Erlösung verkauft, doch die Friktionsschaltung mit einem Schrägparallelogramm war immer noch ein Segen. Sie ist ein noch größerer Segen, wenn man die  Kraft einer halben Pedalumdrehung opfert und die Kette auf den nächsten Gang gleiten lässt. Indexierung und die Technologie hinter den 50000 Dollar Rädern der Olympischen Spiele von 1984 machten im Vergleich mit  neuen technischen Lösungen die Beherrschung bestimmter Fertigkeiten zur Fortbewegung eines  Fahrrades immer bedeutungsloser. Die in Wettbewerbsräder eingeflossene Technologie konnte nur gerechtfertigt und amortisiert werden, indem sie dem mainstream verfügbar gemacht wurde. Heute hat die Technologie übernommen und das Rad ist immer weniger mechanisch, denn elektrischer und elektronischer, als man es je voraussehen konnte.

Die babyboomer werden alt und möchten leichter und schneller vorwärtskommen, und wenn Elektronik schon in allen anderen Bereichen dominiert, warum nicht bei Fahrrädern? Das Fahrrad von 2030 wird weder Können noch Muskeln erfordern, um mit 50 km/h zu fahren und wird als Gottesgeschenk gepriesen werden. Große Fahrradhersteller werden weiter Profis engagieren, um bei uns Übrigen die Nachfrage anzuregen. Die UCI der Olympische Radsport werden den elektrischen Weg gehen. Elektrische und elektronische Räder werden immer mehr Menschen Zugang zu den Tiefen der Wälder verschaffen und das wird positiv konnotierte Ableger ergeben wie den Öko-Tourismus nach Island, den Galpagos in die Mongolei und so weiter. Zurück in der Stadt werden motorisierte „Radfahrer“ weiterhin nicht neben Autos fahren wollen, sondern sich auf Mehrzweckwegen mit Fußgägnern, Rollerfahrern und anderen drängeln. Die Großhersteller stellen bereits die Fertigung gewisser Teile wie Umwerfer ein, Schaltwerke und Ketten werden folgen. Man wird uns erzählen, dies sei der Fortschritt.

Die meisten Fahrradläden heißen ihre elektrische Zukunft willkommen und vergessen dabei daß, wenn erst einmal alle Räder so sind, auch die herkömmlichen, mechanischen Reparaturleistungen  und Dienstleistungen (ja sogar Verkäufe! ) nicht mehr notewendig sind. Der einzige Service wird in regelmäßigen Software updates bestehen, ein wenig wie beim aktuellen tesla. Diese Entwicklung mag nicht aufzuhalten sein, aber wir werden diese Rolltreppe nach unten nicht benutzen.  . . .

G:P: März 2024

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Umzingelt von genderfluiden Schokohasen – eine Polemik

 

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ich will nicht in einer Nahwelt vor mich hinvegetieren, in einem Vorort, nein, da komm ich doch her, das will ich nicht, das kann ich nicht.“ kill your darlings, 2012.

Die Welt steht am Kipp –Punkt. Das haben wir oft gehört im letzten Jahr, in diesem nicht mehr ganz so häufig, aber es ist an der Zeit, den alltäglichen Ernst dieses Satzes erkennen. Der Osterhase ist umgekippt.

ah1Denn es gibt Fakten: der Kakaopreis ist explodiert,  eine Verdreifachung des Weltmarktpreises seit einem Jahr. Gut, diese Nachricht hätte man schon zur Saison der Fitnessvorsätze – also Mitte Januar –  verbreiten können, aber die ganze Brisanz offenbart sich, wenn Ostern „vor der Tür“ steht. Dann ist der Kakaopreis wichtiger als der Preis für das Probeabo im Fitness24.

ah4Der Schokohase steht draussen vor der Tür. Und er hat sich stark verändert. Sein Grundbaustein, die dunkelbraune, bittere Kakaobutter ist zunehmend aus seinem Körper gewichen. Als hätten Berater dem Unternehmen empfohlen, dessen Herkunft, das zentrale Afrika, dekorativ zu verschleiern. Ohne den Preis zu senken.

Dann entstehen Varianten die zeigen, daß der Schokohase vom Teint her nicht nur ein Facelift wie Kinderbuchfiguren oder Barbies Disney Verwandte erfahren hat, sondern mehrfach mit der Zeit geht. Er ist erheblich diverser und genderfluid geworden, wenn man das von einem Schokohasen überhaupt sagen kann. Aber es geht ja nur darum, als was er wahrgenommen wird. Für alle etwas dabei! Immer mit einem Lächeln, der gute, goldene alte Lindthase wirkt allmählich grimmig, vielleicht sieht er mit Verachtung auf seine Thronfolger?

ah3Diese dauergrinsenden Stanniolhüllen üben den Terror der Niedlichkeit aus: ich bin doch lieb. Ihr seid alle so lieb und nett; ihr seid lieb, wir sind lieb, wir sind alle gut und alle glücklich. Für fünf Minuten.

ah2Zucker, Kaffee, Tee, Kakao, das sind vier Säulen des verwerflichen Raubtierkolonialismus. Aus dem doch die ersten Milliarden des Europäischen Bürgertums kommen, Vermögen, die ungebrochen über alle Kriege Bestand hatten. Und nebenher die Städegesellschaft kippten. Und wachsen weiter, die Geschäftsbeziehungen halten. Denn Kakao wie Kaffee, urkolonialistisches Ausbeutungsprodukte, sind der NutellaKitt, unser Hasenglück und auch die kleine Kapseltasse, die die suburbaniserte Gesellschaft zusammenhält, die die 14 Millionen Pendler (D) allmorgendlich beflügelt, sich ans Steuer zu setzen und pünktlich im Stau zu erscheinen.

Und dann wird der Kakao zu teuer.

Ist der Kipp Punkt erreicht? Ist die Feier vorbei? Ganz allmählich substituieren trinkbare Syntehesekoffeine unter martialischen Namen die edlen Naturprodukte, nur kann man aus ihnen keine Schokohasen formen, eine Alubüchse lächelt nicht, ein  Schokohase schon. Wir wollen das Lächeln!

ah03Wir wollen uns dann zukünftig bescheiden mit mehr maximalpreisigem Invertzucker, Billigstreinfett und lieber wenig Peopleof C belastetem Kakao. So können wir dieses hervorragende Nahrungsmittel auf dem Altar der politischen Sühne opfern, wir tun Gutes und essen Schlechtes; in zwei Jahren wird niemand mehr wissen, woraus die bösen Urgroßeltern der Schoko-Osterhase bestanden. Der Preis bleibt auf hohem Niveau stabil. Nur ein kliner Dreh im Alltag des Selbstbetrugs.

In meinem Bunker des alten weißen Mannes darf ich natürlich auf dem Privileg der 81%er Schokolade beharren. Mit fairtrade Stempel habe ich eine Freistellung des grünen Ministeriums e. Ich esse die bestmögliche, nahrhafteste und gesündeste Form der Ausbeutung, kann diese sogar nach sao tomé oder madagascar oder Ecuador steuern. Die unübertroffene Konstellation von Bitterstoffen, Proteinen, Spurenelementen und euphorisierenden, dunkelbraunen Essenzen zaubert mir ein echtes Lächeln ins Gesicht. Sie macht glücklich.  

ah8Die übrigen sind verdammt dazu, sich von genderfluiden Fakern angrinsen zu lassen.

In Memoriam Rene Pollesch

 

 

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Mein Deutschlandmärchen Maastricht 200 – Februar 2024

am03Der Maastricht 200 ist ein Fixstern, die Ouvertüre der Saison. Nicht nur der erste Brevet, sondern eine immer neue Begegnung mit alten Jagdgründen.. Die Suche nach der alten Fährte, denn Du vergisst nie die ersten langen Strecken Deines Lebens. In diesem Jahr wie in jedem: 100 Kilometer mit dem Wind, 100 km dagegen, je nach Laune der Natur. Südpol ist  Maastricht, der Nordpol Venlo.

am82Die Fabel der eigenen Wege wird weitergesponnen, diesmal kommt eine andere Fabel dazu: mein Deutschlandmärchen. Der Lebensbericht eines Gabelstaplerfahrers, der Dichter ist, die poetisch angereicherte Biographie eines Türken, der in Deutschland geboren wird, zufällig gerade hier aufwächst und zum Dichter wird  – weil es anders nicht geht, ein Deutschlandmärchen zu schreiben.

Das Buch https://www.perlentaucher.de/buch/dincer-guecyeter/unser-deutschlandmaerchen.html von Dincer Gücyeter war das, was man einen Erfolg der Kritik nennt. Es gab Interviews, Lesungen, Preise: eine Öffentlichkeit für ein wichtiges Stück Vergangenheit, eine Vergangenheit, die unsere Gegenwart und Zukunft ist: wir erkennen es gerade;  Dincer (und seine Brüder und Schwestern) begleiten uns .

am01Aber jetzt nieselt es in Maastricht, die Dachrinne des stayokay Hostels bietet kaum Schutz für die 80 aufgereihten Sättel und nur meine kleine Hecktasche wird mich vor Nässe schützen –  auf den Kilometern zur Stadt hinaus. Die Stimmung im Vorraum der Herberge ist beinahe familiär, der Kaffee tut gut, auf dem schönen großen Holztisch liegen die gelben Brevetkarten, der Stapel wird schnell kleiner. 9h ist Abfahrt.

am3Gemeinsam ziehen wir zur morgendlich ruhenden Stadt hinaus. Nach der Altstadt kommt ein Ring moderner Urbanbauten, gerade macht der Kiosk auf. Die Gruppen ziehn sich an jeder Ampel in die Länge, weiter und weiter auseinander. Dann schon die erste Rampe ostwärts aus dem Maastal, alles zerstreut sich in die zart aufgrünende Landschaft, deren Bewohner allmählich in den Samstag aufbrechen.

am4Dann ist der Himmel aufgerissen, gerade als es in die liebliche Ecke Limburgs geht. Wir nehmen erst eine, dann zwei und noch eine lange dritte Steigung – uns wird nicht kalt. Kurz vor dem Dreiländerpunkt, der höchsten Stelle Hollands geht es im Wald wieder links ab.

am lutoDie Musik, die mich in Fragmenten während dieser Fahrt begleitet, ist das  Klavierkonzert von Witold Lutoslawski (1987). Ein Komplexes, vielschichtiges Werk, das ich seit einer Woche zu durchdringen versuche. Es hat neben kurzen, expressiven Fragmenten, tiefe, romantische und stark rhythmische Momente. Immer wieder fliegen  Melodiestücke – in der Musik des 20ten finden sich weniger Melodiebögen – zu. Kleine Partikel und große Akkorde. Flüchtig wie Wolken, die der Wind vor uns hertreibt. Flüchtig wie die bunten Punkte der Radfahrer, die durch den Samstagmorgen bergab fliegen, bergauf kriechen.

am5Schon ist die letzte Kuppe des Mergellands überwunden und da reichen wir die gelbe Karte zum Stempel an einer improviserten Kontrolle: eine sogenannte Geheimkontrolle. Weiter durch die Siedlungen des Aachener Beckens. Unter Aufwerfungen der ErdKruste fand sich der Schatz, der Häuser und Städte wachsen liess. Kohle.

am7Längst vorbei die Ära der Kohle, nur die Häuserguppen verraten noch die alte Industrie. Ob in Wales, der Borinage oder der Ruhr, über all gibt es die kleinen roten Häuserzeilen. Viele Dincer lebten auch hier, genau wie gleich drüben in Deutschland – in den Zechen, den Werkstätten, auf den Feldern. Jetzt sind sie ein halbes Jahrhundert alt.

am12In der Partitur des Orchesters sind Stellen die ad libitum notiert sind . Bei jeder Aufführung verändern sie sich, dauern länger oder kürzer. Es ist also jedesmal wie Landschaft und Wetter, die sich verändern. Der Klavierteil dagegen ist ganz klassisch notiert. So auch hier. Mein Teil ist gleich, die Gänge, die Partitur (das ist die Strecke), ändert sich nicht. Das Wetter ändert sich, der Himmel und der Wind ändern sich, geben das Tempo vor. Ich spiele meinen Teil. Dann geht meinem Klavier die Luft aus.

am02Nur zehn Minuten und es geht gut, das Schaltwerk gibt das Rad schnell  frei, auf der eisernen Bank, die Bremse offen und tauschen. Sie ziehen vorbei und ich mache ein like in ihre Richtung. An der ersten Kontrolle sind wir wieder beisammen. Km 61 – Mit einer Nussecke über die Äcker davon

am04Auf die Windräder zu, Wind von schräg links, jetzt gut, später wird er gnadenlos sein. Am Horizont eine Linie, der Rurgraben, die letzte kleine Falte, meine alte Heimat mit ihrer eigenen Kohlehalde, lange her. Keine Türme mehr, aber noch immer die riesisge halde, wir fahren über die Skelette gigantischer Wälder, die Fossilien türmen sich am Rand. Der Sand einer Baustelle hat das Rad völlig eingesaut, warum fahre ich nur mit dem track des letzten Jahres?

Der Komponist der Fahrt hat die Partitur umgeschrieben und ich habe es ignoriert. An der Tankstelle einen halbe Kanne Wasser drüber, es knirscht nicht  mehr.  Wieder die kleine roten Backsteinhäuser. Mein Deutschlandmärchen rückt näher und näher.

am11Erst salutieren: der streunende Mann mit dem großen Fotoapparat bewegt sich mitten auf dem alten Pershing Gelände. Eine ultra-geheime Stellung, in den  Bunkern lagen die Raketen und die Lafetten, die Container, von denen aus  die Raketen ausgerichtet wurden, 600km Reichweite – also Polen,  Tschechien, Baltikum, oder eben: DDR . Die atomaren Sprengköpfe lagen in anderen Bunkern, nicht weit von Controlpoint 1. Natürlich sind sie alle weg.  Jetzt rostet die Stellung vor sich hin und die neue Tourismus Route hakt den Aussenposten des kalten Krieges ab.

am22Der Wind steht gut ich, mache Meilen, das Märchen von Dincer Gücyeter rückt näher. Es spielt in einer ganz unscheinbaren Gegend, nördlich von Brüggen. Bracht und Breyell  – Nettetal.  Wer nicht daran interessiert ist , kann unter dem BurgerKing bild weiterlesen.

am13Hier ist das Ortssschild und hier sind die Felder. Dincer, das ist ein junger Türke, ungefähr mein Jahrgang. Irgendwo hinter der nächsten Ecke wächst er mit seinen Eltern auf. Als der Vater vom Herzinfarkt niedergestreckt wird, steigt Dincer, 9 Jahre alt, heimlich mit in den Bus, der die Frauen zur Erntearbeit auf die Felder führt, seinen beitrag leisten, um nicht in Armut zu versinken. Von da an wird er Porree und Gurken ernten, sich in die Armee der Tagelöhner einreihen, mitten im Wohlstandsland wo das Geld auf den bäumen wächst. Später die Schlosserlehre in der Fabrik. Wohlstand für alle.

am81Genau hier hilft er den Bauern auf den Feldern aus. Seine Mutter ist Erntehelferin, nur nebenbei, denn es ist nötig, um gegen die Schulden zu kämpfen, die der Vater überall gemacht hat. Im Deutschlandmärchen zählen die Frauen, die Dincer erziehen. Seine Mutter, die von ihrer Familie in eine Fernheirat vermittelt wird und ihr Ticket nach Deutschland löst, seine Tanten, der abwesende Vater, seine gescheiterten Geschäftsideen und die Kneipe, die nur leidlich läuft. Während die Mutter in der Fabrik Akkord arbeitet, leiht er sich für neue Unternehmungen Geld, ihre Gäste leihen sich Geld, lassen anschreiben, der Kreis, aus dem Du nicht herauskommst. In der Türkei, wo die Großmutter als Witwe verstossen wurd auf dem nackten Boden schlief und mit ihren Mädchen hungerte. Wo die Großmutter der Tochter befahl, den da (Foto) zu heiraten : jetzt sind sie ganz unten auf der Leiter BRD) Leute, die es geschafft haben. Das Geld in Almanya wächst auf den Bäumen.

Leicht burlesk komödiantisch könnte man die Serie „Türkisch für Anfänger“ (ZDF 05) noch vergleichen, aber hier im westlichen Zonenrandgebiet von Nettetal gibt es keine Komödie, nur Zärtlichkeit und Kampf .

am9Es sieht immer noch nicht so aus, als hätten alle gewonnen.

Almanya, das waren die ersten hundert Kilometer und kurz vor der Grenze ist Rast.  Es ist weniger los als genau vor einem Jahr, dabei ist es genau dieser Samstag vor einem Jahr. Vielleicht ist die Differenz der Spritpreise nicht mehr hoch genug? Es sind auch keine Autos am Drive In und als ich durch das Schiebefenster sehe, ist kaum Personal da. An einem Samstag um 13h30, Ende Februar

Einmal King des Monats – ich bin ganz ordentlich vorwärtsgekommen. Km 111. Der Preis gleich, die Fleischportion ist geschrumpft . Ich dehne und trinke und esse. ein Radler zieht vorbei – schnell hinterher.

an1In Venlo irre ich umher und stoppe am großen Kreisverkehr Ich mache ein Belegbild mit Armbanduhr. So ist es, wenn man die neue Partitur nicht dabei hat, der Controlpoint 2 ist irgendwo in einem Gasthaus, das ich nicht kenne. Jedenfalls  liegt es nicht an der alten Route. Sehr dumm. Müßig weiter zu irren oder jemand zu fragen: dabei hatte ich oben noch ein Radtrikot um die Ecke biegen sehen. Verschwunden  – und jetzt stehe ich hier und sehe den Tesla Ladungen zu, wie sie über die Maas verschwinden. Hinterher.

an2Und dann fiel ich ab. Ich hätte nicht nur innen, sondern den Mantel auch aussen abtasten sollen. So hat sich ein kleiner Splitstein ganz langsam weiter durch gearbeitet und ein winziges Loch gebohrt. Ein einzelner, blöder kleiner Split. Im Windschutz sorgfälitg getrimmter Buchshecke ziehe ich meinen letzten Schlauch: danach wird nur noch  Flicken helfen – aber es darf kein danach geben, ich will mit Sonnenuntergang in Maastricht sein.

Die andere Seite der Münze, das saubere, gepflegte Holland entlang der Maas. Alleen und Dörfer. Allein.

Es beginnen 80 Kilometer, die sehr sehr lang werden. Die Brise ist steif, ganz selten schützende Hecken oder Hausreihen. Erst einen Takt finden. Niemand vor mir, niemand hinter mir. Die Letzten, die mich passierten beim Reifenflicken haben jetzt 6, 7 minuten Vorsprung,  davor noch andere mit 10 Minuten, aber diese Gruppen werden sich zusammenschließen und gemeinsam schön Kraft sparen, die ich vergeuden muss.So ist das Gesetz des Windes und der Ebene. Fast unmöglich das aufzuholen. Gut, daß es eine einsame, leere Route ist, ich gehe tief ins Gebet des Unterlenkers, solang die Kräfte reichen. Das Pro am rollt ruhig unter mir, zwei Gänge reichen für den Rest des Tages, der Unterlenker reicht tief genug.

an3Manchmal sehe ich auf und schnappe Luft, noch mehr Luft. Nach einer Ewigkeit – die nur eine Stunde gewesen sein kann endlich eine Silhouette, eine Boje im Meer. Und ein Wäldchen, endlich aus dem Wind, den letzten Riegel ziehen. Bio steht drauf und es knackt, als ich ihn durchbreche, er ist steinhart, aber er ist bio und löst sich in der Backentasche auf . Der Vordermann fährt gleiches Tempo. Wo kommt er nur her? Das Trikot erkannt: dunkelblau, der war mit zwei Meisjes unterwegs, 10 minuten vor.

Wir machen  gemeinsame  Sache und lösen uns ab und das tut unendlich gut. Noch 7km bis Thorn sagt er und die Meisjes? die, mit denen er vor meinem zweiten Platten unterwegs war sind fort, to sterk vor mee. Und nach einem Kreisverkehr ist auch er weg, verschwunden, aber dahinten, zwischen den Pappelreihen ist der Turm von Thorn, das Rad verliert keine Luft  – die letzte Pause. Km 159.

am14So komme ich an, als die Meisjes gerade wieder losfahren. Stempeln Kakao, Kirche, Kopfsteinpflaster, weiter allein, das Licht könnte reichen. Das Stück heute in neuem Tempo, Andante, wo wir im letzten jahr noch ein Presto Finale hatten. Aber ich halte den Takt, ich grabe mich in diesem diffusen Schmerz ein, gerade unter der Schwelle. Ich habe das Tempo gefunden.

an5Mit Überquerung der Maas beginnen die letzten 20 Kilometer. Noch einmal beißen, den Wind mit voller Macht schmecken.

an6Wenn das Auto vom letzten jahr grüßt: wie eine Boje, an der man sich festhält. Vermutlich hat es weniger Kilometer als mein Rad  gemacht. Hin und wieder kleine Wellen durch Dörfer. Ausser Abwechslung im Takt zeigen sie, wie weit man die Muskeln gefordert hat. Kommt kein Krampf, dann ist gut. Und plötzlich eine Leuchtmarke vor Dir, irgendwie bekannt. Aus der Gruppe gefallen? Panne?

Es ist der Rickertfahrer aus der großen Gruppe. Einfach platt, sagt er. Ich zitiere DAF: „ich bin tot – und das ist gut.“ Er lächelt, auch wenn er das Stück nicht kennt und es wird ein Mantra für die gemeinsame Fahrt auf den letzten 15. Die Sonne sinkt, er reicht mir noch einen kleinen Riegel, wir lösen uns ab, er kommt wieder an die Oberfläche, vor allem, als ich zwei weitere Trikots vor mir sehe. Hell und Dunkel: graugrün. Das müssen die Meisjes sein.

Also haben sie die Gruppe ziehen lassen, oder sie wollen unter sich bleiben. Sie sehen uns kommen , als es noch einmal die 8 meter Höhenunterschied zum Kanal bewältigen. Letzte Berge. Völlig klar, wir werden sie gemeinsam einrollen, so will es das Gesetz der Radfahrer, Rennen hin oder her, Jagdinstinkt besiegt jede Müdigkeit, jede Entmutigung.

an7Als wir dann Maastricht Nord erreichen sind wir bald zu viert – ein Randonneur NL ist kurz vor uns, dient uns als Pilotfisch, denn die kleinen Abzweigungen jetzt sind vertrackt. Es ist schwer, eine so dicht bebaute Stadt autofrei zu erreichen. Km 200.

an9

Der Abend kommt, die Straßen sind voller Menschen, sie flanieren, der Winter ist vorbei, es riecht nicht mehr nach Krise. Hier nicht und erst recht nicht bei uns, wie wir zufrieden auf das Bier im Ziel zurollen.

an11Gut, daß der „Doyen“  Ivo meine bildreichen Erklärungen akzeptiert. Ich bekomme meinen Stempel, den ersten des Jahres. Gut, daß es die Sofaecke im stayokay gibt, hier sitzen alle beisammen und sehen sich glücklich an. Dann kommen die Nächsten. Die Maschinen füllen den Vorplatz, rote Punkte huschen vorüber. Die Nacht ist da.

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Cornus Mas – im Februar 2024

Einmal ins Lahntal und wieder hinauf. 140km und die ersten Blüten des Jahres

ac12Mitte Februar vorbei, im Tal blühen die ersten Kornelkirschen (Cornus mas) an den Wegrändern, e s ist trocken, Schutzbleche werden überflüssig. Manchmal kommt ein Hauch Sonne vorbei, nicht lange .

Das ist der Moment, in dem das Radjahr eigentlich beginnt. Der Körper ist nicht mehr ganz so verpackt, die Strümpfe etwas dünner. Bei Kälte opfern Radfahrer ein Drittel ihrer Energie für den eigenen Wärmehaushalt. Die Fahrt verläuft jetzt viel angenehmer, der Körper räkelt sich auf der Maschine.

ac11Das Rad mit dem ich die Saison eröffne ist mein großes Koga, ein 63er Rahmen. Ich habe ihn einer Verjüngungskur unterzogen,Bremsen und Laufräder sind einjahrzehnt jünger und mit 23mm geht es auf sensationell schmalen open4 Felgen dahin. Diese Felgen markieren den zaghaften Beginn einer hochprofiligen Zeit, ihre Nachfolger gibt es heute noch: fast baugleich. Hohe Felgenprofile wurden auf Steifigkeit entwickelt: die Kraft sollte auf die Straße kommen. Etwas straffer fühlt es sich schon an, immer noch komfortabel genug.

ac4Ganz geschmeidig lasse ich an den ersten Höhenmetern die Schaltung hochwandern, mit 7 Ritzeln und 26 Z max harmoniert die alte Dura Ace bestens, sie war die erste Schaltung, die das Campagnolo Monopol gefährdete. Sie bewältigte eine höhere Kapazität an Zähnen und fiel (auch wegen der schrägverzahnten Ritzel) williger auf das im Sprint entscheidende 13er. Schön, jedoch mechanisch empfindlicher blieb diese Dura Ace ein seltener Gast in den Pelotons. .

ac3Hinunter zum Lahntal habe ich Zeit, sauber zu schalten. Die Kette läuft geschmeidig und lautlos, ich kann alle neuen Stimmen der Natur genau hören. Die Drosseln haben mit dem Reigen begonnen. Das Bullern eines Traktordiesel verschwindet, weiter unten warten neue Farben und neue Blüte

Die Muskeln sind warm, der Plan einfach. In kleinen Gängen werde ich zuerst 100km unterwegs sein, flott, ma non troppo. Auf  dem Rückweg erhöhe ich dann die Schlagzahl und fahre eine Extrarunde den Westerwald hinauf –  die eigentliche Trainingsbelastung.

ac41Februar, da fallen Bäume. Überall Trupps mit orangenen Warnwesten in orangenen Fahrzeugen unterwegs. Vieles ist bereits  erledigt, die Strünke der zurückgebliebenen Stämme säumen leuchtend den Weg. Selten wirken sie morsch oder hohl. In lebenden Zweigspitzen schießt überall neue Farbe ein, von Ferne bilden Büsche und hecken mikropolyphone Muster.

ac6Cornus Mas, die Kornelkirsche grüßt diskret am Wall,  ihr Wurzelwerk stabilisiert das Erdreich der Böschung, auch bei starken Regenfällen. Die Kapillaren liefern den Saft für neue Blüten. Es ist ein sehr zartes Gelbgrün, die Früchte im Herbst sind länglich, ihre rote Farbe erinnert an Wein. Sie sind sauer, aber eßbar.

Mein Wendepunkt kommt näher.

ac5Gießen wird durch ein Kordon von Baumärkten, Kreuzungspunkten der Umfahrungsstraßen, Ampeln , Gewerbegebäuden, Lagerhallen, Lagerflächen, Anlagen vom Umland getrennt. In einer Ecke hinter der Autobahnbrücke ist ein größerer Parkplatz, ein kleiner Bach führt daran vorbei, hier findet der Flohmarkt statt. Sie bauen ab. Auf dem Boden stehen Kisten mit billigem Werkzeu , schrottigem Hausrat. Die Kleiderhändler sind schon fort. Wer ein altes Fahrrad (in gutem Zustand) möchte, kann noch zugreifen.

ac8Auf Fahrrädern ziehen kleine Händler ihre unverkaufte Habe in improvisierten Koffern und Kartons davon. Alte Kinderanhänger sind wetterdichte Transporter.Es wirkt wie ein großes Picknick, das aufgeräumt wird. Wenigstens hat es nicht geregnet. Im Lidlmarkt schräg  gegenüber kann man sich billig versorgen. Lidl hat auch Kaffeeautomaten im Vorraum,  Russen kaufen im Sommer saure Gurken und Buttermilch literweise.

Gießen, über Jahrhunderte Handelsplatz der Lumpensammler. Ist jetzt das große Verteilungszentrum für Flüchtlinge aller Welt, die, je nach Sprachregelung Geflüchtete oder Zugewanderte genannt werden. Alte Kasernen der US Besatzungsmacht helfen, tausende unterzubringen. Dicht daneben entstehen Wohnviertel, denn es herrscht Wohungsmangel allhier.

ac9Jenseits der Lahnbrücke beginnt ein anderes Gießen. Ein gutes Gießen, in dem Fritten gern 6 Euro kosten können (mit dip). Das ist die Inflation (und die Mehrwertsteuer und der Fachkräftemangel). Preise spiegeln eben Unterschiede. Ein Gießen in dem der Plattenhändler sich mit alten VinylScheiben über Wasser halten kann. Seine CDs zum vierfachen Flohmarktkurs wirken schäbig.

ac91Meine Pause im Total Access von Heuchelheim. Tankstellen liegen an den wichtigen Ecken –   Ein kleines Stehpult, der Blick auf die Kreuzung, immer neue Gäste.  Für 6 Euro gibt’s schon eine Art Menu – inclusive Metzgereiwurst. Gleich geht es in die zweite Halbzeit, das Zeug muß drei Stunden vorhalten. Noch zwei Riegel und eine halbvolle Flasche – damit weiter

ac911Hinter Biskirchen beginnt der Anstieg aus dem Ulmtal. Eine schöne Landstraße zieht sich allmählich höher. Ausser Erle und Hasel blüht da nichts mehr, der leichte Wind kommt von schräg vorn. Ganz gleichmäßig treten, ganz dosiert die Kraft einteilen. Eine Stunde lang die Last erhöhen.

ac912In Beilstein endet das Ulmtal mit dem alten Bahnhof, stillgelegt       . Die letzten Stufen zum hohen Westerwald beginnen hier. Hinter den Wellen kommen noch Wiesen, aus versprengten Höfen und Hütten sind kleine Dörfer geworden.

ac913Ab jetzt wird die Strecke durch immer neue, giftige Anstiege verschärft, in den Ortsdurchfahrten kann verschnauft werden. Eine Form langer Intervallübungen, ich frage nur, ob die 26 zähne hinten noch reichen. Sie müssen.

Gleich nach diesem Ladengeschäft undefinierter Funktion bin ich oben. Den Pennymarkt von Mademühlen links liegen lassen, an der Krombachtalsperre der höchste Punkt: die Dunkelheit kommt näher und ich fahre nur mit Rücklicht.

ac915Es wird für das letzte Tageslicht reichen, es wird für die letzten Körner auskommen, es ist ein schönes, langes Decrescendo, ganz ruhig läuft das gute alte Rad. Ein gewaltiger Traktor gibt mir noch einmal hinter seinen riesigen Walzen Windschatten. Tempo 45  kein Problem -die Saison fängt doch gut an.

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Gewinner im Kampf gegen den Schweinebauch

aa01Ob es nun lehrbuchmäßig war oder in Nuancen abgewandelt –die Geschichte der EBikes in den letzten drei Jahren hat das Zeug, eine musterhafte Fallstudie über den Schweinebauchzyklus zu werden. Erinnern wir uns:

Wir schreiben das jahr 2019. Über dem gelben Ozean erhebt sich die gewaltige Corona Sonne und allen ist schnell klar: sie wird auch den letzten Winkel der globalisierten Erde erfassen. Die Angst vor dem totalen lockdown geht um, vor der tödlichen Ansteckung und der ultimativen Ausgangssperre. Es kam nicht ganz so schlimm und auch nicht ganz so flächendeckend, aber Europa hatte plötzlich eine kleine Verkehrswende, bevor der Ausdruck Regierungssprech wurde.

aa10Alle, die seit 30 Jahren in den Urlaub flogen, hatten nun Geld auf der hohen Kante und mehr Zeit, als ihnen lieb war. Also prompt Ebikes ordern, nicht selten gleich zwei, das sicherte die mobile Freiheit,  maskenfreie Autonomie ohne Ansteckungsgefahr. Das war Stufe 1. Später, während Ämter mit der Zählung und Benennung neuer Mutanten überfordert waren und trefflich gestritten wurde, wer nun was wo mit wievielen Spritzen in Deutschland machen durfte, lieferte der Regierungswechsel Booster 2:  grüne Mobilität.

aa7Die erste Nachfragewelle  räumte die Lager,  Händler orderten nach,  Lieferketten wurden zum Bersten gespannt – und rissen  temporär; aber das machte nichts, es kamen Förderprogramme des Staates. Goldene Zeiten für Fahrradhändler, neue Radspuren poppten überall auf. Doch wie Finanzmathematik und Psyche so wollen: man extrapoliert und rechnet sich Wachstum zu, immer mehr Schweinebäuche müssen her. Was sollte auch schiefgehen? Das boomende EBike Geschäft war ja Vorbote der leuchtenden, elektromobilen Zukunft, zudem Privatbollwerk gegen den Klimawandel und Coronargefäßkrankheiten. Im Schweinebauchzyklus ist das der Moment, in dem Fabriken ihr Angebot nochmals hochfahren und für 100 fette Jahre produzieren. Everyone is a Winner, Babe.

aa5Als Winterfahrer hätte ich 20/21 ein paar zaghafte Bemerkungen machen können, denn abgesehen vielleicht von den Kurzstreckenpendlern in Innenstädten sind Fahrräder wie Zugvögel. Im Herbst vetrschwinden sie. Unter 10 Grad rollen 2 Räder einfach nicht,  das weiß der Handel genau. Und dann kam der große Spielverderber, der am Gashahn sitzt.

aa1Die Inflation hat nichts gegen Zweiräder, aber sie siebt gnadenlos das Überflüssige vom Notwendigen. Notwendig war nun einmal das Auto, der Urlaub, die Wagner Pizza und die warme Wohnung. Ein Fahrrad frißt kein Brot –  wenn man eins hat. Es hatten offenbar genug. Ein neues Fahrrad ist teuer und dann doch nicht ganz so unverzichtbar. Aber der Handel ist an Verträge gebunden und so kamen die gefüllten 40 Fuß Container voller Schweinebäuche und ergossen sich übers Land.

aa2Nie wurde ich in den gefüllten Hallen der ganz großen Discounter so freundlich begrüßt wie Anfang Februar, während ich über die Richtungspfeile der Teststrecke gondelte, um mir noch eine Ersatzkette zu leisten, oder den Preisverfall der Radschuhe von 390 auf 190 (euro) bestaunte. Es war nicht leicht, an den Massen geparkter Räder vorbeizukommen. Ja, rief ich: das ist der Schweinbauch! Bis zum Sommer müßt ihr ihn loswerden. Ich kaufte eine Kette, ein hübsches Lenkerband und Sitzcreme.

aa3Überall standen sie sauber aufgereiht, die schönen Fahrräder des Sommers und goldenen Herbstes. Und es waren nicht mal Rennräder. Keine Frage. Ihnen gehört die Zukunft – wenn sie nicht mehr ganz so teuer sind.

aa4Für mein (19)85er Koga habe ich mir gerade schöne Laufräder ausgesucht und die neue Kette abgelängt, damit die  Ritzel auch die nächsten 5000km abspulen. Ein Gewinner im Schweinebauchzyklus.

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So nah wie möglich – Nachbild Laurent Fignon

af4

Fan sein ist schön: Du brauchst nicht singen zu können, keine Note lesen, keinen Ball geradeaus schießen, mußt nicht eine Sekunde schneller pro Kilometer sein – und trotzdem bleibst Du glücklicher Bewunderer. Ja vielleicht bist Du umso glücklicher, je weniger Du weißt,  je mehr die verborgenen Seiten des Bewunderten unbekannt bleiben.

Darum werden die meisten Bücher über Stars – Kunst, Sport, was auch immer Ruhm bringt –in der Perspektive des Fans für Fans geschrieben. Nur sehr wenige kommen ihrer Sache näher, viele beschreiben nur eine Oberfläche ohne Körper. Profis wissen, dieses Kalkül geht auf, und Verklärung ist ein wunderbares Instrument, den vergänglichen Ruhm und Umsatz zu mehren. Auch (gerade?) Radsport hat solche Bücher mit den Narrativen von Schmerz, Tragik, übermenschlichen Opfern immerfort produziert, für jede Generation von neuem.

af1Ruhm vergeht und wandelt sich. Mit dem Netz sind wir Quellenforscher geworden, es gibt keine Monopole mehr auf die Vergangenheit, keine Alleinstellung. Fast alles, was Massenmedien aufzeichneten ist fast allen verfügbar geworden (leicht übertrieben). Im Sport können wir die Perspektive des Fans erweitern, mehr sehen und besser verstehen.

Auf YT (um die Quelle zu nennen) finden  sich unzählige  Radrennen aus diversen Archiven, ganze Saisons lassen sich rekonstruieren (magicrème tv), die vorher in Einzelbilder fragmentiert  und mythologisch verklärt waren. Für den kleinen Historiker in mir eine unschätzbare Quelle: die Stundenmittel lassen gut erkennen, ab wann das Peloton sich in einem neuen Zustand befindet. Aber auch, wie Dramen und Großtaten geschehen. Genau erkennen wir, wie Renngeschichte gemacht wird, wann Rennen entschieden werden.

af3Die Videos erlauben den Abgleich mit den Erzählungen aus Buchregalen. Ein Radsportler, dessen Lebensgeschichte einen herausragenden Platz einnimmt, ist Laurent Fignon. Seine Auto/Biographie, die auf Deutsch 2010im Covadonga Verlag  erschien, schafft es nicht nur, parallel zum Leben des Champions eine Epoche zu erzählen, sie ist auch eine der wenigen Lektüren zum Radsport, die sich zweimal lesen lassen. Auch wenn Fignon für seinen Offenherzigkeit bekannt ist: manches wird erst beim zweiten Lesen klarer – vieles dank youtube-Bildern deutlich. Der aussichtslose Kampf  der Jahre 1991-93 gegen ein Peloton, das Epo immer umfassender verwendet. Die bittere Konsequenz

af6Zu selten erhalten wir derart vollständige Einblicke in die Psyche eines Champions, zu oft bleibt die Erfolgsgeschichte in einer Dimension stecken. Anders bei Fignon: es kommt alles zusammen: der geschäftliche Sinn, die Siegesgewissheit, die Bitternis der Enttäuschung und der Versuch, die verlorene Überlegenheit wiederzufinden. Wir erkennen jetzt die Ansätze , sich noch einmal dagegen aufzulehnen und verfolgen ihr unbarmherziges Scheitern.

af5Ältere (wie ich) wissen, was sie an ihren Vorbildern haben, Fignon ist als Zeitgenosse präsent. Nachgeborene erkennen, daß seine Lebensgeschichte auch eine entscheidende Epoche der Mediengesellschaft beschreibt  und dazu die Entstehung des (Welt)Radsports, wie wir ihn kennen. Des Sports als integrale, totale Medieninszenierung. Hinter den Sonnenbrillen verschwindet auch das Unbekümmerte.

Fignon – Wir waren jung und unbekümmert  Laurent Fignon – ISBN 10 : 3936973520 – ISBN 13 : 9783936973525 – Covadonga – Couverture souple.

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Wo der Haarschnitt so wenig kostet

aw3Es ist ein eher unangehnehmer Wintertag, zwar friert es nicht mehr, dafür versorgt ein kraftvoller,böiger Westwind den kleinen Ort W im oberen Westerwald mit immer neuen Schauern.

aw5Dies ist die Hauptstraße und links erkennt man eines der prachtvollsten und ältesten Fachwerkhäuser des Ortes (fast im Ursprungszustand). Leider ist es seit etwas längerer Zeit unbewohnt, genauso wie es keinen Bäcker mehr in der Bäckerei daneben gibt. Etwas weiter hinten auf der gegenüberliegenden Seite der Bundesstraße, die diesen Ort durchzieht, leuchtet ein frisch eröffneter Herrenbarbier, die in den letzten Jahren in Kleinstädten wie Pilze aufpoppen.

Vorher hatte ungefähr 200 jahre lang eine Apotheke dort ihren festen Sitz . Sie ist nun am Ortseingang zu finden, da, wo die Supermärkte sind und die vielen Parkplätze.Alle freuen sich über Parkplätze und den sehr kurzen Weg zum Einkauf.

aw1W liegt oben auf dem Hügelkamm, der Weg dorthin gehört mehrfach in der Woche zum Pensum, so trainiert man Höhenmeter und  genießt immer auf s Neue den weiten, weiten Blick über die Provinz. Hier die Windräder auf dem Rod; ganz weit hinten der große Feldberg, seitlich von ihm ahnt man das Lahntal Richtung Gießen.  

aw11Eine Person, die ich als Frau lese, steht auf den Stufen der Volksbank Westerwald, gleich neben dem Gedenkschild eines nach Amerika ausgewanderten Mannes, der dank Erfindung des Bügelverschlusses reich geworden und seinem Dorf den Anschluß an die Eisenbahn finanzierte.

Die Filiale ist bereits geschlossen,  aber für die Überweisungen analoger Dinosaurier gibt es immer noch einen Briefkasten, gleich neben der telefonierenden Gestalt, die ein mittelamerikanisches Spanisch spricht. Ihre Haare sind sehr lang, fallen über die Daunenjacke und fast über die Leggins, die kurz über den Sneakern ein Stück brauner Haut freilassen. Die Knöchel sind ungewöhnlich kräftig, geradezu geschwollen und als ich noch einmal aufblicke, sehe ich sehr lange, künstliche violette Fingernägel einer derben Hand die das smartphone umfaßt. Die Stimme ist auffällig tief.

aw12Es ist wirklich sehr wenig auf der Hauptstraße los, bei dem Wetter geht man besser nicht zu Fuß. Doch da ist noch ein als junger Mann lesbarer Mensch,  dessen Jeans von einem Hilfiger-Gürtel gehalten wird. Während er auf die Bushaltestelle zuschlendert, zieht er die Jeans nochmals hoch und dabei baumelt eine kleine, gesteppte Umhängetasche an seinem Blouson entlang. Nun setzt er sich in die Bushaltestelle und sieht sich um.

aw2Gerade als ich wieder auf mein Rad steige, läuft die möglicherweise queere Person (es ist keine Frau) plötzlich los, quer über die Straße und gleich hinter das alte Fachwerkhaus. Dessen Fenster sind blind und der Hof hinter dem Haus steht leer. Im Vorüberfahren kann ich deutlich den Geruch von Marihuana riechen. Zur Straße hin liegt der Hof in perfekter Deckung.

aw4Der Regen nimmt eine Prise zu,  der Barbiersalon hebt sich umso heller vom grauen Himmel ab,  and er Bushaltestelle sitzt niemand mehr – es kam kein Bus, es gibt auch keinen Friseur, es ist nur ein Dorf . ich ziehe weiter, dorthin wo das Leben spielt.

aw6

Der Aldi Parkplatz geht im nächsten Schauer unter, innen kämpfen Kunden um Sonderangebote. Ins Dorf gehen sie nur, um sich billig beim Arena die Haare schneiden zu lassen – auch wenn die Stimmung dort etwas merkwürdig ist.  Deutschland, 26. Januar 2024

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